Tobias Gohlis über Jerome Charyn: Unter dem Auge Gottes




Jerome Charyn:
Unter dem Auge Gottes

Aus dem amerikanischen Englisch von Jürgen Bürger


 

 

 

 

Kampf um die Bronx

Der elfte Roman der Sidel-Saga ist eine Hommage an das ewige New York des 20. Jahrhunderts

In der Dunkelkammer, die dieser Kolumne ihren Namen gibt, hat sich die Atmosphäre verändert. Statt sanftem Rotlicht zischen Blitze durch den abgedunkelten Raum. Im Entwicklerbad werden die Weiß-, Grau- und Schwarztöne nicht langsam sichtbar, sondern die Konturen der Bilder erstarren geheimnisvoll und unfertig. Wir sind im elften Roman Jerome Charyns um den Mann mit der Glock, um Isaac Sidel, den Citizen, den Mörder, der Bürgermeister von New York ist und demnächst Vizepräsident der Vereinigten Staaten: Unter dem Auge Gottes.
Ist das noch Krimi? Manche Leserinnen werden sich das fragen, wenn sie diesen Gewittersturm an Einfällen zu Liebesgeschichten, Gangstergeschichte, US- und New-York-Mythologie hinter sich haben. Und werden hoffentlich ihre Frage gleich wieder vergessen und damit die traurigen Abläufe der herkömmlichen Schemaliteratur hinter sich lassen. Wer einmal Charyn genossen hat, kommt nicht mehr davon runter. Champagner pur. (Was nicht heißt, dass man immer Champagner trinken muss.)
1974 war Isaac Sidel (in Blue Eyes, dem ersten Band der Serie) Deputy Chief Inspector. Jetzt, 1988, haben die Demokraten ihn auf ihren Schild gehoben. Er soll Vizepräsident der Vereinigten Staaten werden. Es ist die merkwürdige Zeit zwischen der Wahl und der Amtseinführung. Noch nicht endgültig gewählter Präsident ist Michael J. Storm, ein gieriger Immobilienspekulant. Storm und der noch amtierende Präsident Cottonwood wollen mitten in der damals (Ende der achtziger Jahre) völlig ruinierten Bronx ein Militärlager errichten – wie weiland im Mittelalter schwache Könige den rebellischen Städten eine Besatzungsmacht aufzwangen. Doch Sidel, immer noch der Mayor New Yorks, kann das nicht zulassen. Auf der Suche nach Verbündeten in diesem aussichtslos scheinenden Kampf findet er einen alten Mann in Pantoffeln. Er haust in einem der groteskesten Gebäude Manhattans, dem ehemaligen Hotel Ansonia. In diesem Palast mit lebenden Robben im Foyer und einer Farm auf dem Dach wohnte einst New Yorks größter Gangster Arnold Rothstein.
Als Sidel vom demokratischen Wahlkomitee gefragt wird, wer sein größter Held ist, zögert er nicht: "AR. Der König des Verbrechens." Der Mann in Pantoffeln ist Rothsteins Erbe David Pearl, auch in der Liebe: Er richtete Inez, der Geliebten des Gangsters, nach dessen Ermordung im Ansonia ein Museum ein. Jetzt, vierzig Jahre nach dem Tod dieser Inez hat er es mit einer neuen Inez besetzt. Isaac verliebt sich in sie und ihre silbernes Haar. David Pearl ist, wie alle Figuren Charyns, von grandioser Dubiosität. Er hat Sidel über die Jahre gefördert, jetzt organisiert er Mordanschläge auf den designierten Vizepräsidenten. Er ist der reichste Immobilienmakler New Yorks, hat aber noch nie ein Haus verkauft. Und er spielt Marionettentheater: mit Inez der Zweiten, mit Präsident Cottonwood, mit gedungenen Mördern, die er auf Isaac hetzt.
Hier könnte ich weiter schwelgen in bizarren Figuren und flirrenden Figurenkonstellationen, aus denen Schlaglichter auf die Wirklichkeit von Organisierter Kriminalität, Politik und ihren Mythen fallen. Oder nur fragen: Trauen Sie sich, Sidel zu folgen in seinen Kampf um die Bronx, in seinen Kampf um Amerika?

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in buchjournal 5-2013

Siehe auch: Tobias Gohlis Vorwort zu Jerome Charyn: Das Isaac-Quartett

Siehe auch: Tobias Gohlis über Jerome Charyn: Montezumas Mann