Tobias Gohlis über Mark Costello, Paranoia

 


Mark Costello: Paranoia; Aus dem Englischen von Hans M. Herzog; Goldmann Verlag; München 2004, 432 S., 21,90 EUR

 

 

Tag und Nacht auf Lauer

Ach, könnte man sich doch nur auf die Autoren verlassen. In 90 Prozent der Fälle ist ja eindeutig, was ein Kriminalroman ist. Schwierig wird es mit den Grenzgängern. Als Jan Costin Wagner vor knapp einem Jahr Eismond veröffentlichte, war nicht einmal ihm selbst völlig klar, ob es sich um einen Krimi oder um einen psychologischen Roman über zwei in den Tod verstrickte Finnen handelte (s.a. Die Zeit 31/2003). Prompt brannten in der einschlägigen und auch der nicht-einschlägigen Literaturkritik die Sicherungen durch. Die einen begrüßten Wagners Nordwerk als ersehntes Gegenstück zur Popliteratur, andere bekrittelten seine Realitätsferne und Lebensfremdheit, anstatt gelassen die Emanzipation des Autors von den Genreregeln zu ertragen. Ein entgegengesetzter Fall ist Ein allzu schönes Mädchen. Hier legte sich der Autor Matthias Altenburg sogar das Pseudonym Jan Seghers zu, um einen Krimi schreiben zu können, den er in der Tradition Henning Mankells sieht. Doch allen Autorenbekundungen zum Trotz scheint mir das Buch eine - wenn auch sehr gekonnt altmeisterlich erzählte - Novelle zu sein. Die unerhörte Begebenheit, von der Seghers berichtet - eine junge Frau tötet aus Notwehr die Männer, die von ihrer Schönheit überwältigt werden - käme auch ohne ermittelnden Kommissar aus.

Und nun kommt ein Buch über den großen Teich, von dem der Autor, ein Ex-Staatsanwalt zudem, wie selbstverständlich behauptet, es handle sich auf keinen Fall um eine crime novel. Tatsächlich fehlen Mark Costellos Paranoia beinahe alle Elemente, die man gemeinhin mit dem Kriminalroman, genauer: dem Detektivroman, verbindet. Es gibt keine Leiche zu Beginn und auch keinen Ermittler, der herausfinden muss, wer sie gemeuchelt hat. Verdächtige gibt es allerdings genug. Denn Paranoia ist das Psychogramm einer Gruppe, deren Beruf das Töten ist. Die junge Vi Asplund und ihre Kollegen sind Beamte des Secret Service, Abteilung Personenschutz. Ihr ganzes Leben, ihre Existenz ist ein einziges Lauern. Psychisch erstarrt und hellwach zugleich warten sie auf den einen Augenblick, der ihr Dasein rechtfertigt: wenn sie einwandfrei den Attentäter identifizieren und ihm mit dem Alarmruf "Waffe, Waffe"! zuvorkommen. Glänzend beschreibt Costello die Dauerparanoia dieser Zombies als "Wachmodus": "eine Art defensiver Zen-Zustand, in der ein Verstand rein und leer zugleich ist und nur das registriert, was er sieht." Als Vi Asplund ihren Bruder und seine Familie im heimatlichen New Hampshire besucht, registrieren sie verwundert, dass die Schwester sich wie eine Irre verhält. Ruhelos sondierend taxiert ihr Blick Landschaft, Personen und Gegenstände. Sie hat verlernt, ihren Liebsten in die Augen zu sehen. Sie wartet auch zu Hause auf das Big If, wie der Roman im Original heißt.

Raymond Chandler hat einmal bemerkt, dass es "nicht gerade komisch ist, wenn ein Mensch getötet wird, aber es ist manchmal urkomisch, um wie geringer Dinge willen er getötet wird und dass sein Tod die Scheidemünze dessen ist, was wir Zivilisation nennen". Auf diesen bitteren Witz läuft Costellos Roman wie der sprichwörtliche Zug zu, der sich nicht aufhalten lässt. Irgendwann wird der stetig wachsende Wahn der Personenschützer mit dem Wahn eines anderen zusammenstoßen. Die ganze ungeheure Spannung von Paranoia beruht darauf, dass der Leser immer klarer mit diesem Ende rechnet, es zum Schluss beinahe herbeisehnt. Doch erst auf den letzten Seiten ist es so weit. Ein entlassener Computerprogrammierer hebt bei der Wahlrede des Vizepräsidenten eine ungeladene Smith&Wesson. "Waffe, Waffe!": Selbstmord durch Erschießung.

Paranoia ist nicht wie García Marquez' berühmter Roman die Chronik eines angekündigten Todes , sondern die Chronik einer unvermeidlichen Hinrichtung. Nach der Lektüre von Paranoia fragt man sich verblüfft, warum vor Costello niemand auf die geniale Idee gekommen ist, den wahnwitzigen und Wahn erzeugenden Berufsalltag von Sicherheitsbeamten als Metapher für den entseelten Zustand unserer Gesellschaften auszuleuchten. Er tut dies erbarmungslos und kalt. Mit einer an Don DeLillo trainierten Sachlichkeit registriert Costello die Automatismen, die zum Staatsverbrechen führen. Und das soll kein Kriminalroman sein? Wir Leser sind die Zeugen. Paranoia ist Verbrechensdichtung auf Augenhöhe mit unserer Zeit: Wenn der Staat mordet, ist er nicht dingfest zu machen - außer im Kriminalroman.

Veröffentlicht in DIE ZEIT