Tobias Gohlis über James Ellroy: Ein amerikanischer Albtraum




Keine Spielchen mit der Mafia

Die Söldner skalpieren Kubaner

Ellroy, der Dokumentengott

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James Ellroy:
Ein amerikanischer Albtraum.

Ein amerikanischer Thriller.

Beide aus dem Englischen von Stephen Tree

 

 

 

 

 

Sie töteten die Kennedys

Anomie ist das Ambrosia der Kriminalliteratur. Anomie herrscht, wenn Teile einer Gesellschaft nicht mehr mit den Werten, Normen und Gesetzen der Mehrheit übereinstimmen und für sich noch keine ausreichend stabilen Regeln gefunden haben, nach denen sie ihr Zusammensein gestalten können. Kriminalschriftsteller sind die fantastischen Empiriker der Anomie, und ihr Meister ist James Ellroy.
In Romanen wie Die schwarze Dahlie, Blutschatten oder L. A. Confidential hat er die Ge-schichte der vierziger und fünfziger Jahre in Los Angeles aus der Perspektive einiger Polizisten erzählt, auf die die herkömmlichen Bewertungskategorien von gut und böse, gesetzestreu und verbrecherisch nicht mehr zutreffen. Sie töten, foltern, verfolgen, betrügen, ermitteln, lieben, wie sie wollen. Anomie ist, wie Oswald Wiener einmal sagte, mehr als Anarchie. Sie ist die Freiheit einiger weniger, alles zu tun, was ihnen einfällt.

Keine Spielchen mit der Mafia
In seinen beiden jüngsten Romanen, deutsch als Ein amerikanischer Thriller (1996) und Ein amerikanischer Albtraum (2001) erschienen, hat Ellroy die Kampfzone ausgeweitet. Er erzählt darin die Geschichte der USA von 1958 bis 1968 (ein dritter Band bis 1973 soll folgen). In einer kalkulierten Mischung bekannter historischer Fakten und mehr oder minder plausibler Verschwörungstheorien führt er John F. Kennedys Ermordung (Thriller) und die Attentate auf Martin Luther King und Robert F. Kennedy (Albtraum) auf ein Komplott der Mafia zurück, das von so bizarren Figuren wie dem Milliardär Howard Hughes, der von regelmäßigen Bluttransfusionen und Heroin lebt, und dem FBI-Direktor J. Edgar Hoover begünstigt wird. Ellroy begreift diese Zeit als ein Gestrüpp von Verschwörungen, Intrigen und Betrügereien. Die Anomie ist keine Randerscheinung mehr, sie herrscht im Staatsapparat. Gesetzlosigkeit auf allen Ebenen. Womanizer Kennedy wird mithilfe der Mafia Präsident, schon sein Vater hat mit ihr Millionen gemacht. Wie können da die Mobster einen Generalstaatsanwalt und Justizminister (Robert F. Kennedy) dulden, der gegen sie vorgeht? Wer sich ihren Weisungen nicht fügt, wird bestraft.

Die Söldner skalpieren Kubaner
Ellroy reportiert das Machtgerangel im düsteren Schatten des Kalten Krieges aus dem Blickwinkel der mittleren Ebene: aus der jener Erpresser und Abhörspezialisten, Spitzel und Staatsanwälte, Söldnerführer von Mörder- und Invasionstruppen, die die Befehle der diversen CIA-, FBI- und Gangsterbosse operativ umsetzen. Unter den Hunderten von Figuren zeichnet Ellroy selbst jene vier bis fünf Protagonisten, auf die er sich konzentriert, gespenstisch konturlos. Sie sind Chamäleons des Verrats, vereinen Widersprüchlichstes. Pete Bondurant etwa, frankokanadischer Killer, Ex-FBI-, Ex-CIA-Agent, der im Mafiaauftrag nachts nach Kuba fährt, um dort Soldaten aus Castros Küstenwache zu skalpieren, lebt mit einer Frau, die sich für Rassengleichheit und Robert F. Kennedys Antimafiakampagnen begeistert. Oder Wayne Tedrow. Zu Beginn des Albtraums ermöglicht der junge Polizist einem schwarzen Zuhälter, den er im Auftrag der Kasinobosse killen soll, die Flucht, und bringt zur Vertuschung einen Kollegen um. Weitere Sozialisationsstationen sind ein Drogenlabor in Vietnam und eine Sonderermittlungseinheit des FBI. Sein Leben erfüllt sich in dem Mord an dem, der ihm alles eingebrockt hat. "Sein Vater schrie. Auf die Scheiben spritzte Blut."

Ellroy, der Dokumentengott
Ellroy beschreibt die Aktivitäten seiner Figuren, als beuge sich ein Zoologe über einen Amei-senhaufen: Er sieht nur Aktion und Reaktion, Zeichen von Wut, Raserei, Triebhaftigkeit. Konsequent notiert er seine Beobachtungen in einem lapidaren pseudodokumentarischen Stil, Hauptsatz reiht sich an Hauptsatz, über Hunderte von Seiten. Dieser, im Albtraum gegenüber dem Thriller nochmals forcierte Bürokraten-Rap-Stil erzeugt eine halluzinogene Stimmung (die bei einigen empörten Rezensenten in Ermüdung umschlug).
Alle Figuren schweben in der Halbdistanz des Rapports: Mal glaubt man, ihre Motive zu begreifen, dann entziehen sie sich wieder. Ellroy spielt ein grandioses und gefährliches Spiel mit der de-tektivischen Lust des Lesers zu verstehen. Der darf nicht einen Augenblick in seiner Aufmerk-samkeit nachlassen: Nur einmal fallen die Namen der beiden Heckenschützen, die Kennedy ermor-deten, in einem Nebensatz auf Seite 474. Ellroy gibt den Dokumentengott. Wir Leser müssen die von ihm arrangierten Rätsel lösen - und begreifen irgendwann, dass seine Welt so regellos ist wie die, die wir bewohnen. Darin geht es nur ums Überleben. Ellroy schreibt die schwärzeste Feder Amerikas. Kein Recht, keine Moral. Nirgends.

Veröffentlicht in DIE ZEIT Nr. 08/02

Siehe auch: Tobias Gohlis über „Blut will fließen“