Tobias Gohlis über Nicci French: In seiner Hand

 


Ohne Röcheln

Niemand glaubt dem Opfer

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Nicci French: In seiner Hand

Aus dem Englischen von Birgit Moosmüller


 

 

Etwas Scharfes, Kaltes für heiße Tage

Wenn der Sommer so dicht ist, dass einem nur noch die Hängematte bleibt und die Daiquiris, wenn man angefressen wird von der eintönigen Lauheit der Abende und wenn Kachelmanns Wetterdienst einem nach jeder Tagesthemen-Sendung erneut erklären muss, dass eine Nacht dann eine tropische genannt wird, wenn das Thermometer bis zum Morgen nicht unter 20 Grad Celsius sinken wird, kurz, wenn wir nur noch hitzefrei wollen, dann ist etwas Scharfes, Kaltes, nicht allzu Schwieriges gerade angesagt.
Stellen wir uns also einen dieser Januartage in London (der Nebel!) vor, die kaum die Augen aufklappen und deshalb vierundzwanzig Stunden lang künstlich beleuchtet werden müssen. Silvester ist gerade vorbei, und alle guten Vorsätze sind schon vergessen.
Noch kälter ist es in dem Verlies, in dem eine Frau hockt, mit Draht an Händen, Füßen und Hals gefesselt. Sie kann nichts sehen, weil eine Kapuze ihren Kopf bedeckt, und fürchtet, sich selbst zu erdrosseln. Und, was von stärker viktorianisch gestimmten Autoren oft bei derartigen Szenen ausgespart wird, sie sitzt in ihren Exkrementen. Brrh. Ab und zu schlurft ihr Entführer herbei, gibt ihr etwas Ekliges zu trinken, hebt sie auf einen Kübel und lässt sie sich erleichtern. Wir schaudern, wenn wir uns die Situation dieser Frau vorstellen. Dann wieder Kapuze, Alleinsein und Angst.

Ohne Röcheln
Aber die Frau ist nicht allein, trotz der Kopfverletzung, der Kopfschmerzen und der Angst. Sie hat eine Menge aus dem Kino und dem Fernsehen gelernt und weiß, dass sie nicht über ihre schlimme Lage nachdenken darf. Sie versenkt sich in Bilder von bunten Wiesen, über denen sich Schmetterlinge tummeln - was ist von einer 25-jährigen Managerin, die im Büroausstattungsbusiness erfolgreich ist, auch anderes zu erwarten? Sollte sie Shakespeares Sonette rezitieren oder Chaucers Canterbury Tales?
So weit, so geläufig, denkt man und lässt In seiner Hand aus der müden selbigen ins ungemähte Gras sinken und sich von den Zupfmücken in die Allergie treiben. Morgen ist auch noch ein Tag. Doch irgendwie wird einem plötzlich, bei einem Lufthauch, klar, dass diese Abigail sich nicht unterkriegen und von ihrem dumpfen Entführer abmetzeln lassen wird. Sie ist auf eine sehr selbstverständliche Weise tough.
Sie glaubt einfach nicht, dass sie zum Opfer bestimmt sei. Natürlich gibt es solche Frauen, aber sie? Nicht persönlich. Kaum ist das gegessen, legt Abbie schon los und reißt einfach, das ist nun gar nicht mehr Hollywood, sondern dieses Deus-ex-machina-Glück, das nur die Tapferen haben, ratzfatz mit dem Hals und dem Draht den Haken aus der Wand, an den sie gebunden war. Ohne Röcheln.
Dieses quälerische Solo der jungen Einsamen ist der Auftakt zu einem richtig fetzigen Urlaubs-reißer. Abbie hat nämlich Pech.

Niemand glaubt dem Opfer
Niemand will ihre Geschichte der brutalen Entführung und der halb im Wahnsinn gelungenen Befreiung glauben. Am wenigsten diese unheimlich nette Psychologin, die ihr immer wieder eine Aussprache anbietet. Statt sich auf die Suche nach dem Entführer zu machen, behandeln Polizei und Ärzte Abbie wie eine Wahnkranke, und zeitweise gerät auch der Leser in Zweifel, ob sie sich nicht doch in eine herbeifantasierte Masowelt verzogen hat.
Abbie hat zu allem Überfluss eine Gedächtnislücke. Mühsam recherchiert sie, was in der verlorenen Zeit geschah, und beginnt, durch Haarschnitt und neue Kleidung getarnt, die Suche nach dem Entführer. Es scheint, als sei sie in den vierzehn Tagen, die ihr fehlen, ausradiert worden: Sie hat keine Unterkunft, keinen Job, kein Geld und keinen Freund mehr. Es ist ihr purer Überlebenswille, der sie schließlich eine Wohnung finden lässt, in der sie erstaunlicherweise schon gelebt haben muss.
Na ja, und dann gelingt es ihr, gestützt auf ihre Fernseherfahrungen, doch noch, den Dumpfling zu finden und ihm so richtig eine zu verpassen. Das darf ich schon verraten. Denn schließlich ist das ganze eine Ich-Erzählung, und es gibt nur ganz wenige Ich-Erzählungen, wie zum Beispiel Flug 2039 von dem wahnsinnigen Chuck Palahniuk, die mit dem Tod ihres Erzählers ausgehen. In diesem Fall macht das aber nichts, denn wir haben es ja eigentlich anders nicht erwartet.
Übrigens, liebe Leserinnen (und Kolleginnen, die Ihr schon mal über weibliches Schreiben schreibt): Nicci French ist keine Frau, sondern ein Nom de Plume. Es ist das Amalgam aus Nicci Gerrard (f.) und Sean French (m.) aus London, die jedes Jahr im Sommer mit einem neuen Krimi beweisen, dass Spannung androgyn ist.

Veröffentlichung inDIE ZEIT Nr. 34 vom 14.08.2003

Siehe auch: Tobias Gohlis über „Nicci French - Blauer Montag“