Tobias Gohlis über Alan Furst: Die Nacht der Sirenen

 


Alan Furst: Die Nacht der Sirenen. Aus dem Englischen von Rudolf Hermstein

 

 

Die Melancholie der Spione

"Serebin war zweiundvierzig, das war sein fünfter Krieg, er hielt sich für einen Experten im Davonlaufen, Sich-Verstecken und Wegsehen." Ilja Alexandrowitsch Serebin liegt Rücken an Brust neben Marie-Galante, einer verheirateten Dame, die ihn tief unten im Bauch des Frachters Svistov in seiner Kabine aufgesucht hat. Sie war nach dem Dinner hereingekommen, hatte ihren Zobel fallen lassen und Serebin gezeigt, was darunter war. Erst hundert Seiten später erkennen wir, dass dieser schwüle Dampfschifftraum von Seitensprung Teil eines weit und raffiniert gespannten Plans war, den ehemaligen Offizier der roten Armee dorthin zu bewegen, wo er nie mehr sein wollte: im Zentrum der Gefahr.

Serebin ist Schriftsteller. 1938 hatten ihn zwei Tschekisten mitten in der Nacht zu Stalin gebracht. Er wurde nicht erschossen, wie er befürchtet hatte, sondern erhielt aus allermächtigstem Mund Lob für sein letztes Buch. Anschließend musste er sich Laurel und Hardy ansehen. Stalin und Berija amüsierten sich köstlich. Nach dieser Nacht ging Serebin nach Paris und wurde dort Redakteur der literarischen Zeitschrift "Ernte", einem Trostblatt für die eingeschüchterten Seelen russischer Emigranten. Serebin ist gewissermaßen dienstlich im Bauch des Frachters und bei Marie-Galante gelandet. Als geschäftsführender Sekretär der Internationalen Russischen Union - sie vertritt "eine Ideologie aus Tolstoi, Mitgefühl und Erinnerungen an Sonnenuntergänge" - ist er unterwegs zur Dependance in Istanbul. Kaum hat die kleine Feier zu seinen Ehren mit Rezitation, Kuchen und Limonade begonnen, fliegt eine Kiste mit Auberginen, das Geschenk eines Lebensmittelgeschäfts, in die Luft. Etliche Mitglieder der IRU sind zerfetzt, Serebin bleibt unverletzt, ein Telefonanruf hat ihn nach draußen gelockt. Dabei ist Istanbul in diesem Winter 1940/41 eine der wenigen Städte Europas, in die der Krieg noch nicht vorgedrungen ist.

Europa in den Jahren 1935 bis 1945: Das sind Zeit und Ort, an denen die Romane Alan Fursts spielen. Furst ist hierzulande bisher nur Kennern bekannt, beinahe ein Geheimtipp. In den achtziger Jahren sind bereits einmal drei Romane des 1941 geborenen Amerikaners auf Deutsch erschienen. Dann war Sendepause, während Furst vor allem in England eine wachsende Leserschaft fand. In den USA gelang ihm der Durchbruch erst 2001 - er schrieb zu europäisch für den amerikanischen Geschmack. Hierzulande begann sein Comeback 2002 mit Das Reich der Schatten.

Den 2004 erschienenen Roman Die Nacht der Sirenen kann man als Variante und Fortsetzung lesen. In beiden Romanen steht ein melancholischer Außenseiter im Mittelpunkt, der aus seiner Lebenslethargie gerissen wird. In Reich der Schatten verwandelte sich der ungarische Aristokrat und Genießer Morath unter dem Druck des drohenden Okkupation Tschechiens durch Hitler in einen mit allen Wassern gewaschenen Spion. In Die Nacht der Sirenen reaktiviert der kampfesmüde Serebin alle seine in Krieg und Bürgerkrieg erworbenen Fähigkeiten als Spion und Saboteur. Nur wenige Tage nach dem trauten Stelldichein im Bauch des Frachters ist er rekrutiert und reist als Mitglied von "Polanyis Orchester", mal unter eigenem Namen, mal getarnt als Antiquitätenhändler oder Journalist durch ganz Europa. Ziel seiner Spionageoperationen ist es, die für die Nazis kriegswichtigen Erdöltransporte auf der Donau zu blockieren. Dirigiert werden Serebin und seine Mitstreiter von dem ungarischen Grafen Polanyi, der gestützt auf ein immenses Vermögen und europaweite Kontakte zu allen Kreisen Widerstand gegen Hitler stiftet wie Gärtner Zwiebeln setzen.

Furst bezeichnet seine Romane als "historische Spionagegeschichten". Doch sind sie weit mehr als diese schlichte Genrezuordnung vermuten lässt. Furst erzeugt mit einer meisterhaft verknappten Sprache der Andeutungen eine Stimmung allgemeiner Angst und Unsicherheit. Alles wankt, alles verändert sich, nichts ist klar, jeder kann ein Verräter sein. Natürlich fühlt man sich mit Serebin von schleichenden Meuchelmördern in den dunklen Gassen von Bukarest bedroht. Doch es sind nicht die action - Elemente, die die Spannung erzeugen, sondern die Lücken zwischen den Wörtern, aus denen in jedem Augenblick der tödliche Schuss fallen kann. Natürlich wissen wir, wie die Geschichte ausgegangen ist. Furst erinnert uns in seinen glänzenden Porträts einer für immer untergegangenen Epoche an ein Europa, in dem es viele Menschen gab, die keinen anderen Ausweg sahen, als das Richtige zu tun.

Veröffentlichung in DIE ZEIT