Lecter — alles andere als ein Normalo
Schwester gefressen = Kannibale
Als hätten die Deutschen nur Lecter zum Ziel gehabt
Ein viktorianisches Abort, kein sechster Finger
Hannibal — eine Pennälerfantasie
Elend langer Abgang
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Thomas Harris:
Hannibal Rising
Aus dem Amerikanischen von Sepp Leeb
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Armer Hannibal — Der Über-Kannibale endet als Würstchen
Sieben Jahre sind seit seinem letzten Erscheinen als Über-Kannibale
vergangen. Jetzt ist Hannibal Lecter wieder da. In Hannibal Rising
reicht Thomas Harris die Jugend des mythischen Serienkillers nach – und
tut das Schlimmste, was ein Autor seinem Helden antun kann. Er verwandelt
ihn in ein armes Würstchen.
Er war, er ist der mythische Serienkiller: Dr. Hannibal Lecter, Psychiater,
Pianist, Menschenfresser. Sein Gesicht, verborgen unter der Beißmaske,
ist die Inkarnation des Bösen schlechthin. Kaum jemand, der Jonathan Demmes
»Das Schweigen der Lämmer« gesehen hat, konnte sich der Faszination von
Hannibal the Cannibal entziehen. Einer Faszination, gemischt
aus Ekel, Entsetzen – und klammheimlicher Bewunderung. Denn der mörderische
Dandy und Gourmet, der wie ein griechischer Gott den Dirigenten des Baltimore
Philharmonic Orchestra mit Thymus- und Bauchspeicheldrüse seiner Patienten
bewirtete, agierte die geheimen Sehnsüchte der Postmoderne als Albträume
aus. Lecter war ein Monster, ein Wunder an Kaltblütigkeit und Amoralität.
Hedonismus, Egozentrik, Machtgier und Bereicherungssucht kulminierten
in seiner puren oralen Lust am Menschenfleisch. Hannibal stand außerhalb
jeder Moralität, und war unerklärbar. »Nichts ist mit mir passiert«, belehrte
er FBI-Schülerin Clarice Starling in Das Schweigen der der Lämmer.
»Ich bin passiert. Sie können mich nicht auf eine Verquickung äußerer
Einflüsse reduzieren.«
Lecter — alles andere als ein Normalo
Thomas Harris hat von Buch zu Buch Hannibals Geheimnis aufgeladen. Von
Anfang an war Dr. Lecter kein Triebtäter, er stand über der Welt dieser
gestörten Menschen, denen ein verkorkstes Etwas befiehlt, sich aus Leichenteilen
eine neue Identität zu schneidern. Primitivitäten dieser Art blieben solchen
Normalos wie Francis Dolarhyde (in Roter Drache, 1981)
und Jame Gumb (nach dem Vorbild des realen Serienmörders Ed
Gein in Das Schweigen der Lämmer, 1988) vorbehalten.
Dr. Lecter hingegen saß im Baltimore State Hospital für geistesgestörte
Straftäter, publizierte in psychiatrischen Fachblättern und lauerte auf
die Chance zum Ausbruch. Nur, wenn es ihm passte, ließ er sich herab,
dem FBI auf der Jagd nach Serientätern zu helfen. Über den ästhetischen
und intellektuellen Genuss hinaus verfolgte er damit das Ziel, sich die
Zeit vor der Freiheit im Spiel mit den Profilern zu vertreiben, die er
als verwandte Charaktere sah. Gekrönt wurde diese Karriere in Hannibal
(1999), als Lecter mit Clarice Starling löffelweise das Hirn aus dem offenen
Schädel ihres Kontrahenten Krendler schlürfte, während dieser Biss um
Biss verblödend Kinderlieder lallte. Hannibals Dämonie lebte von
seiner Arroganz, Unberechenbarkeit und Willkür; seine Biografie hielt
Harris, von einigen wenigen Hinweisen abgesehen, klug verborgen.
Schwester gefressen = Kannibale
Was man bisher von Hannibal Lecters Vorgeschichte wusste, ist in wenigen
Worten gesagt. Er wuchs in einer baltischen Adelsfamilie auf, die im Zweiten
Weltkrieg umkam. Seine kleine Schwester Mischa wurde von Deserteuren geschlachtet
und verzehrt. Einziges Erinnerungsrelikt war das Bild ihrer weiß leuchtenden
Milchzähne in der Klärgrube. Daher kam Hannibals einziger Wunsch: für
Mischa wieder einen »Ort in der Welt zu schaffen«. Dabei hätte es gut
bleiben können. Denn das, was Thomas Harris jetzt in Hannibal
Rising, in der nachgereichten Jugendbiografie Lecters macht,
ist die Demontage seines mythischen Helden durch Moralisierung, Banalisierung
und Verkitschung. »Armer Hannibal« möchte man ausrufen. Sei es, weil dem
Autor der Kaviar ausgeht, sei es der Altersgeschwätzigkeit eines 66-Jährigen
geschuldet — jetzt kriegt Hannibal die »äußeren Einflüsse« nachgetragen.
Geheimnis und Mythos: futsch.
Als hätten die Deutschen nur Lecter zum Ziel gehabt
Als erstes hat Harris ihm ein neues hoch symbolisches
Geburtsdatum verpasst. Hannibal wird nicht mehr, wie in den Romanen zuvor,
1938 geboren, sondern 1933, als Hitler seine Diktatur antrat. Ebenso so
bedeutsam ist Schwester Mischa 1939 auf die Welt gekommen und wird sie
1945 wieder verlassen. Als hätten die Deutschen nur dieses eine Ziel,
besetzt am zweiten Tag des Überfalls auf die Sowjetunion eine »Kompanie
der SS-Division Totenkopf« (SS muss es schon sein) das lectersche Anwesen
in Litauen. Hannibal ist acht. Zum ersten Mal seit 1365 Hannibal der Schreckliche
Burg Lecter gründete, wird sie von der gräflichen Familie verlassen, die
sich auf ein Landhaus im finsteren litauischen Wald zurückzieht.
Ein viktorianisches Abort, kein sechster Finger
Dramaturgisch bedeutsam: Der litauische »Hilfswillige«
Vladis Grutas (wie das deutsche Militär bereits am zweiten Kriegstag einheimische
Besatzungsknechte rekrutieren konnte, weiß Harris allein) beobachtet,
wie der Koch der Lecterfamilie ein Gemälde im Keller versteckt. Die gräfliche
Familie, dank italienischer Mutter, jüdischem Hauslehrer und litauischer,
aber ehrlicher Dienstboten ausreichend multikulti für eine erbauliche
Erzählung, übersteht die deutsche Besatzung einigermaßen komfortabel.
Selbst das Aborthäuschen ist, Antiquitätensammler aufgepasst!, in »viktorianischem
Stil« gestaltet. Hannibal lernt Englisch, Französisch und Mathematik;
an seiner linken Hand ist von dem zusätzlichen sechsten Finger, der ihn
drei Romane lang unverwechselbar gemacht hat, nichts zu sehen.
1945 schlägt dann doch das Schicksal zu. Während eine russische Panzerbesatzung
Wasser aus dem gräflichen Brunnen schöpft, pfeift eine letzte deutsche
Stuka herein. Als wär’s von Guido Knopp: Nur Hannibal und Mischa überleben
Schießerei und Feuersbrunst, um alsbald den inzwischen zu Marodeuren degenerierten
Hiwis unter Vladis Grutas’ Kommando in die schmutzigen Hände zu fallen.
Es friert, die Marodeure werden hungrig. Erst töten sie ein anderes mitgeschlepptes
Kind, dann Mischa — trotz Hannibals heldenhafter Wehr. Milderes Wetter
und die Sowjetarmee bewahren ihn davor, selbst gefuttert zu werden. Und
eine glückliche Amnesie wird ihn bis zum 18. Lebensjahr vor der quälenden
Frage bewahren, ob auch er vom Schwesterfleisch aß.
Hannibal — eine Pennälerfantasie
Bis Kriegsende sind in der transsylvanisch gefärbten
Erzählung immerhin noch Spuren von Thomas Harris’ altem Biss zu spüren.
Der Rest liest sich, als sei er posthum aus Entwürfen von irgendwelchen
Nachlaßverwaltern zusammengestückelt. Nach einem Kurzaufenthalt in der
zum sowjetischen Waisenhaus umgewandelten Burg Lecter wird der traumatisch
verstummte Hannibal von seinem Onkel Robert nach Südfrankreich geholt,
der dort mit seiner japanischen Geliebten Lady Murasaki als Kunstmaler
lebt. (In Anlehnung an den polnisch-französischen Maler Balthus, den Harris
in »Hannibal« noch als Lecters Cousin vorstellte). Jung-Hannibal, der
schon im Waisenhaus ritterlich und auffällig gewalttätig die schwächeren
Kleinen verteidigt hatte, begeht mit 16 seinen ersten Ehrenmord. Diesmal
verteidigt er die Reinheit der geschätzten japanischen Tante, die von
einem Dorfidioten mit der sonst eher von amerikanischen Pennälern kolportierten
These beleidigt wird, ihre Möse stünde quer. Das kostet dem pöbelnden
Metzger(!) den Kopf, bringt Hannibal die Sprache zurück und für die folgenden
200 trivialen Seiten das Misstrauen Inspektor Popils ein. Der figuriert
nämlich als das einzige Spannungselement, das dem inzwischen an der Sorbonne
sezierenden, genialen Medizinstudenten Hannibal bei seiner Rache im Wege
steht.
Elend langer Abgang
Ein auf dem Nachkriegs-Raubkunstmarkt aufgetauchtes
Bild aus dem väterlichen Weinkeller bringt Hannibal, den ritterlichen
Verteidiger von Milchzähnen und japanischen Mösen, auf die Spur von Grutas’
ghoulischer HiWi-Truppe, die dank Mischas Proteinen ebenfalls überlebt
hat. Und dann folgt der elend lange Abgang. Hannibal rächt und rächt und
rächt, bis keiner, der von Mischa gekostet hat, mehr am Leben ist. Das
hat uns noch gefehlt: Hannibal Lecter als Arm der ausgleichenden Gerechtigkeit
Gottes! Huh! Prätentiös verbrämter Ekelkitsch. Hannibal Rising
erscheint zeitgleich in Deutschland (300.000 Erstauflage) und den USA,
als Vorbuch zum Film im Februar 2007. Wer Hannibal the Cannibal als
geheimnisumwitterten Dämon in Erinnerung behalten will, sollte die Hände
davon lassen.
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung bei SPIEGEL
ONLINE am 6.12.2006
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