Tobias Gohlis über Heinrich Steinfest: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte.



Im größten Vorort Deutschlands

Poetik des Acte gratuit

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Heinrich Steinfest: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

 

 

 

 

 

Wiener Retrodieb überlebt in Stuttgart Handdurchschuss

Wenn Zwei sich treffen, trifft der Dritte garantiert den Falschen. Solche Sätze bilden sich quasi von selbst beim Versuch, sich teilschrittweise dem zu nähern, was von Fachleuten als Plot an-gesehen würde, wäre dieser nicht von Heinrich Steinfest und deshalb sowieso abgrundtief bizarr. Klar?

Im größten Vorort Deutschlands
Naja, Sie können sich das vermutlich eh nicht vorstellen: einen Wiener, der es längere Zeit in Stuttgart ("der größte Vorort Deutschlands") aushält. Im Grunde ist die Figur eines Wieners auch nur insofern wichtig, als einmal der Autor einer ist und zweitens ein Stuttgarter sowieso nicht verstanden hätte, was der Architekt Robert Szirba aus Wien an einem düsteren Januartag des Jahres 1999 auf den ersten Blick erkannte. Seit Tagen war er einem Menschen gefolgt, der eine sehr seltene Marotte zu haben schien. Szirba kannte sie gut. Er litt auch darunter. Er nannte es sein "Abgabedelikt" und hielt es bis dato für einzigartig. Szirba - und ebenso die von ihm beobachtete Person - klauten nämlich nicht. Statt unbemerkt etwas zu entfernen, fügten sie unbemerkt etwas hinzu. Und so war Szirba der einzige, der sah, wie der von ihm verfolgte Bruder vom Orden der Retrodiebe ein Wiener Adressbuch neben eine Ausgabe des Mannes ohne Eigenschaften auf den Tisch einer Stuttgarter Antiquariats legte.
Weshalb Szirba etliche Tage und Buchhandlungen später, als der Angstschrei einer Verkäuferin ertönte, sich in einem vernunftlosen Akt der Solidarität nach vorne warf, den Retrobruder aus der Todeszone stieß und leicht verwundet wurde: "Dort, wo die Kugel in den Mann hätte dringen sollen, befand ich mich nun selbst, glücklicherweise jedoch nicht mit lebenswichtigen Teilen meines Körpers, sondern bloß mit der linken Hand." Ein Vorgang, nach dem dieser bisher fünfte Roman von Heinrich Steinfest seinen Titel erhielt: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte.

Poetik des Acte gratuit
Im übrigen geht es des weiteren nicht so sehr um diesen Mann Szirba. Er erzählt nur, was ihm mit dem eigentlichen Attentatsziel, einem Professor Bötsch, im folgenden geschah, und das ist in gewisser Hinsicht auch nur insofern von Interesse, als es dem Hirn eines Autors entsprungen ist, der endlich einmal die Poetik des acte gratuit auf die Handlung eines Kriminalromans anwendet. Sie erinnern sich? Gides Keller des Vatikan, Dostojewskis Raskolnikoff? Die reine Willkürtat, die absolute Freiheit, das unmotivierte Verbrechen? Steinfest begeht eines nach dem andern und mit wunderbarer Entschlossenheit, sich ganz seinen Assoziationen und dem Vergnügen des Lesers anzuvertrauen.
Bötsch und Szirba flüchten vor schießwütigen, von deutsch-düsteren Geld-und-Macht-Köppen manipulierten Stuttgarter Polizisten in die Keller unter Stammheims Hochsicherheitstrakt. Von dort nehmen sie den Kampf gegen ein weiteres geplantes Attentat auf, das gegen eine sehr charmante Frau Holdenried verübt werden soll, sie rennen, retten, flüchten und landen immer wieder am breiten Busen einer Priesterin der offenen Psychiatrie, die ihnen bis zum glücklichen Ende verschiedentlich Auswege aus der Wirrsal und dem Stuttgarter Talkessel freihält. Herrlich! Göttlich! Steinfest! Konsequent erscheint dieser begnadete Zungenredner und Vollkabarettist dort auf, wo man garantiert nicht mit ihm rechnet: bei Bastei Lübbe.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Literaturbeilage Oktober/01

Siehe auch: Tobias Gohlis über Heinrich Steinfest: Mariaschwarz

Siehe auch: Tobias Gohlis über Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle

Siehe auch: Tobias Gohlis über Heinrich Steinfest: Wo die Löwen weinen