Tobias Gohlis über das Thomas-Mann-Symposium in Davos 1994

Vor 82 Jahren residierte Katia Mann im Waldhotel Bellevue

Krude Wirklichkeit

Ein Roman, der störte

tendenziöse Schilderungen

Davoser Lebensprinzipien

epidermales Gruseln

Entdeckerglück

Die Zauberberg-Stelle

 

 

 

 

 

Rückkehr zum Zauberberg

Thomas-Mann-Symposium 1994: Auf der Suche nach Spuren, Zeichen, tieferer Bedeutung


"Trreetten Sie näher, verrehrtes Publikum, Sehen Sie: Der Zauberberg!" Fünfzig, sechzig vom steilen Anstieg zu Waldhotel Bellevue erhitzte, leicht fiebernde Thomas-Mann-Leser rücken auf dem asphaltierten Parkplatz zusammen. "Stellen Sie sich vor, Sie seien ein junger Mann, zwanzig oder etwas darüber. Im Flachland unten wurde eine Tuberkulose festgestellt. Jetzt sind Sie hier, in einer gänzlich fremden Ambiance. Hier werden Sie bleiben, ein Jahr oder zwei oder drei, bis Sie gesund sind oder tot."
Es geht einige Stufen hinauf, an der Rezeption vorbei und an Wandschränken, hinter deren Glastüren Davos-Pullover und Davos-Bücher zum Verkauf ausgestellt sind. Im Flur ist keine Krankenschwester in weißer Haube und mit einem Zwicker auf der Nase zu entdecken, und seine Wände schimmern auch nicht weiß und hart, sondern bräunlich-grün-golden getönt, wie es von einem Schweizer Sporthotel nicht anders zu erwarten ist.

Vor 82 Jahren residierte Katia Mann im Waldhotel Bellevue
Vor zweiundachtzig Jahren war Katia Mann hier untergebracht. Zunächst von der Mutter, später vom Vater accompagniert, verbrachte die von vier Geburten erschöpfte junge Frau mit Lungenaffektation ein halbes Jahr hier oben in Davoser Heillage: sechs Stunden täglich im gelben Liegestuhl auf dem Balkon von Professor Jessens Sanatorium, heute Waldhotel Bellevue.
Im Sommer 1912 kam auch der Gatte drei Wochen zu Besuch. Der Ansteckungsgefahr und noch mehr der Sittlichkeit wegen, die strikte Trennung der Geschlechter verlangte, logierte er im Gästehaus unterhalb des Sanatoriums, im "Haus am Stein". Das war eine k(ult)urhistorisch fashionable Adresse: Robert Louis Stevenson hat darin die Schatzinsel geschrieben, und auch Arthur Conan Doyle hat es von 1893 - 1895 bewohnt. Der Erfinder von Sherlock Holmes ging als Promoter des alpinen Skisports in die Davoser Annalen ein und bekam eine Gedenktafel im Kurpark. Nicht so Thomas Mann: Er bekam Bronchitis. Den profitlich lächelnden Rat Professor Jessens, auch ein halbes Jahr Liegekur zu machen, schlug er wohlweislich aus. Stattdessen retirierte er ins Flachland und ließ sich von Katia brieflich mit Klatsch und Atmosphäre munitionieren. So kam es zum Zauberberg.
Und jetzt, im August 1994, achtzig Jahre nach Romanende und Weltkriegsbeginn, sind 600 Zauberbergdetektive in die Graubündener Kurstadt zum Symposium gekommen, auf der Suche nach Spuren, Zeichen, tiefer Bedeutung. Hauptadresse ist natürlich das Waldhotel Bellevue, hoch am Hang zwischen Platz und Dorf am Waldrand gelegen. Wenn man zu Fuß die steile Straße hinaufächzt, die Höhe! kommt man an einer frisch ocker-braun gestrichenen Bergvilla vorbei, dem Tempel der Freimaurer. Neben Zirkel und Winkel ist ein schwungvolles "Humanitas" auf die Hauswand kalligraphiert, das zauberberggestählte Leserherz beginnt heftiger zu schlagen. Welch Glück, in Davos zu sein! Zusammenhänge tun sich auf, Verbindungen stellen sich her wie von selbst: 1907, so die Zahl im Giebel, wurde der Tempel errichtet und 1907 kam auch Hans Castorp hier an. Könnte nicht die Schrift an der Maurervilla, so spekuliert man ganz unwillkürlich, weiter bergan die Kinderklinik "Pro Juventute" passierend, dem Autor als Inspirationsquelle gedient haben, zunächst einmal für das Ankunftsjahr seines Helden, so dann aber auch für das Roman und Symposium so zentral bewegende Thema der Menschlichkeit selber? Ist hier gar die Original- Ursache zu finden für die Ausweitung der ursprünglich geplanten Novelle zum riesenhaften Zeitroman von 1100 Seiten? Im träumerisch-peristaltischen Innehalten während eines mittäglichen Verdauungsspaziergangs, den der bekanntlich etwas schwache Magen dem Dichter und Gatten abverlangte?

Krude Wirklichkeit
Solcherart aufs Höchste gerichtete Gedankenspiele können einem beim Anblick des Waldhotels kollabieren. Von der ursprünglichen Eleganz ist nur noch die dem Sonneneinfall zu südwärts gebogene Fassade erhalten, der Rest ist Schema Siebziger Jahre. Drinnen dann hat man den vergangenen Tuberkulosezeiten im ehemaligen Gesellschaftsraum des Waldsanatoriums eine Nostalgieecke eingerichtet. Schartiges Tafelsilber, ein paar medizinische Glasgefäße und angeschlagene Emailkannen dämmern in Vitrinen. Unter einem Glassturz reckt ein Männerakt eine Flamme empor - Katia Manns Geheimrat Professor Dr. Friedrich Jessen dilettierte in Bronze und Gips, der Hofrat Behrens des Zauberbergs in Öl. Die Tischchen und Stühle aus den alten Zeiten erinnern an Schulmöbel, aber niemand hat seinen Namen eingeschnitzt. Der Speisesaal wirkt recht klein, zumal zur Zeit Katia Manns viel mehr Gäste als heute beköstigt wurden. Und das mühselig rekonstruierte Sanatoriumszimmer, eine Versammlung trauernder Emailgeschirre um ein schmales Bett, die Möbel in blätterndem Altweiß, ist ein Krankenzimmer wie ein Nachttopf ein Nachttopf ist.
Die detektivische Lust am Wiedererkennen und Aufspüren von Atmosphäre und Inspirationsgegenständen ermüdet längstens im Ski- und Verwaltungskeller des Waldhotels. Weder die Fotografie von Professor Jessens Untersuchungszimmer noch das gegenüber an die Wand gepinnte Schild "Röntgenraum" in Jugendstilschrift lassen die Idee aufkommen, hier habe der Zauberberg 'gespielt'. Zwischen dem heutigen Bügelzimmer mit seinen plumpen Heißmangeln und dem Alchimistenkeller, in dem Hofrat Behrens unter dem Blitz und Donner elektrischer Entladungen Joachim Ziemßen durchleuchtet und Hans Castorp schaudernd fasziniert das leere Gebein seines Vetters betrachtet hat, besteht kein Zusammenhang mehr. Der Zauberberg hat, so scheint es, die Wirklichkeitshaftung verloren, seine Zeit ist ausgelöscht und ganz in der Kunstwelt des Romans aufgegangen.

Ein Roman, der störte
Heimatrecht in Davos hat der Zauberberg eigentlich nie gehabt. "Davos - das ist der Zauberberg, der Berg des Heils", jubilierten zwar die Davoser Blätter in einer Vorankündigung des Romans 1924 und erhofften sich von "einem der bedeutendsten Köpfe des gegenwärtigen Deutschland" eine propagandistische Wertsteigerung ihres Kurorts: "Heil muß uns widerfahren von der Höhe aus."
Doch nach der Lektüre schlug die Stimmung nachhaltig um. Manns satirische Spitzen gegen die Geldgier der Ärzte und der hinter ihnen stehenden Finanziers wurden als Schmähung des in Davos betriebenen "ernsten Forscher- und Heilwerks" und als Schlag gegen die darauf basierende Hochgebirgsökonomie gewertet. Professor Turban, Davoser Tuberkulosetyrann und Begründer der strikten Freiluftliegekur nach paramilitärischem Reglement, dekretierte: "Dieser Sensationsroman, ein trübes Destillat einer trüben Zeit, hat bei Ärzten und Tuberkulosekranken Schaden angerichtet, wird aber bald vergessen sein." Thomas Mann, der in keiner Diziplin etwas auf sich kommen lassen wollte, replizierte die Kritik der Mediziner mit Inbrunst. Bar der sonst gepflegten Ironie wollte er sein Werk rundum positiv gesehen wissen: "Sein Dienst ist Lebensdienst, sein Wille Gesundheit, sein Ziel die Zukunft. Damit ist es ärztlich." Nebenbei hoffte er auf einen medizinischen Ehrendoktorhut.

tendenziöse Schilderungen
In Davos kam er damit vorerst nicht durch: als Tochter Erika 1934 hier mit ihrem Kabarett "Pfeffermühle" gastieren wollte, verweigerte ihr der Kleine Landrat mehrheitlich den Auftritt. Sein Ablehnungsbescheid führt nicht nur Rücksichten gegen die "prozentual starke, ansässige deutsche Kolonie" (darunter eine Nazitruppe unter ihrem Landesführer Wilhelm Gustloff) an, sondern auch das Gemeininteresse. "Schließlich darf gesagt werden, daß Davos der Familie des Herrn Thomas Mann keine besondere Dankespflicht schuldet, da dessen 'Zauberberg' durch die darin enthaltene tendenziöse Schilderung des Kurlebens zweifellos eine Schädigung des Kurortes zur Folge gehabt hat."
So ärztlich, wie es der Autor gerne gehabt hätte, wirkte der Zauberberg auch auf die Kranken nicht, die sich in Davos angesiedelt hatten, weil sie nur hier mit ihrer Krankheit leben und vielleicht geheilt werden konnten. Bei aller oftmals und ehrerbietig formulierten Anerkennung für die literarische Leistung Manns vermißten sie eine Würdigung des heroischen Zweckoptimismus ihres tagtäglichen Überlebenskampfes. Diesen realen Kampf hatte ja der selbst nur "affektierte", eben nicht richtig kranke Hanseat Castorp nicht zu führen. Als Medium der Zeitkrankheit und parzivaleskes Sorgenkind des Lebens sieht er ja den Leidenden beim Leiden zu, seien sie dumm wie Frau Stöhr oder humanistisch gebildet wie die bis zum Duell um seine Seele kämpfenden Pädagogen Settembrini und Naphta. So ein - wenn auch mitleidender und barmherziger, dennoch - Voyeuer konnte kein Held der Tuberkulösen werden. Ihr Symbol und ideales Kunstwerk war "Der Atmer", wie Helga Ferdmann, die grand old Lady der Davoser Publizistik, erzählt. Ich finde ihn im Kurpark gleich neben der Gedenktafel für den Sportler Arthur Conan Doyle: Ein überlebensgroßer Männerakt, der die abgespreizten Arme zu Atemübungen gegen den metallischen Brustkorb drückt, durch und durch ein Recke des Gesundungswillens.

Davoser Lebensprinzipien
Das Davoser Lebensprinzip Optimismus plus Höhenluft gleich ökonomische Wohlfahrt hat der Zauberberg bis in die 70er Jahre gestört. Als das Buch Ende 1924 erschien, bedrohte es die wirtschaftliche Gesundung des Tuberkuloseheilorts nach Inflation und Krieg. Die luxurierende Sanatoriumswelt gutsituierter Bürger der Vorkriegszeit, die Mann in seinem Schwanengesang dieser Existenzform be- und dadurch abgeschrieben hatte, mußte in Davos vergessen werden. Die Zeit verlangte Volksheimstätten und Veteranenspitäler. Ein Beispiel hierfür ist die Geschichte der Höhenklinik Valbella, deren topographische Lage und bombastische Architektur Thomas Mann als weiteres Vorbild für den "Berghof" des Romans benutzte. 1918 wurde das "Sanatorium Valbella Dr. Philippi" vom Deutschen Roten Kreuz und anderen Einrichtungen als "Deutsches Kriegerkurhaus" übernommen, um tuberkulosekranke Soldaten zu versorgen. Seine Existenz war durch Arbeitslosigkeit und Inflation ständig gefährdet, erst für 1925 verzeichnet die Chronik: "Es geht aufwärts".
Nach dem zweiten Weltkrieg dann geriet Davos in eine tiefe Krise. Mit den neuentdeckten Behandlungsmöglichkeiten der Tuberkulose durch Antibiotika verloren die Höhenluftkurorte ihre Bedeutung. Ein neues touristisches Leitbild als Wintersportort, der auch Platz für Forschung, Kongresse und Spezialkliniken für Allergiekrankheiten bot, mußte durchgesetzt werden. Erinnerungen an moribunde Schwindsüchtige, hervorgerufen durch den Anblick von Spucknäpfen und Destillationsmaschinen, störten die neue Lebensentfaltung. Thomas Rusch, heute Direktor des Waldhotels, das bis 1957 als Sanatorium in Betrieb war, hat als Kind die Austreibung der Tuberkulose miterlebt: "Das ganze Haus hat ekelhaft nach Formalin, Chloroform und anderen medizinischen Stoffen gestunken. Besonders grauslich war der Röntgenraum. Er war pechschwarz gestrichen und die riesenhaften Geräte waren so unheimlich, daß sich die spanischen Gastarbeiter weigerten, den Raum zu betreten. Auch wir Kinder trauten uns da nicht rein. Obwohl wir sonst viel Spaß hatten. Wir kletterten aufs Dach und warfen von da die Nachtgeschirre, Glasflaschen und Porzellanbecken runter. Heute wären die unbezahlbar, damals war das Müll, den man so schnell wie möglich loswerden wollte." Ruschs Augen blitzen, wenn er sich daran erinnert, wie die Matratzen und Möbel, die weiß-rot-blau in den Farben Schleswig-Holsteins gehaltenen Balustraden und das Linoleum, das den Boden bedeckt hatte, hinter der "Villa am Stein" verdeckt verbrannt wurden, damit der Scheiterhaufen unten im Ort nicht zu sehen war. "Damals sprach man nur hinter vorgehaltener Hand vom 'Zauberberg-Hotel'. 'Zauberberg' war gleichbedeutend mit Erinnerung an die Tuberkulosezeit. Noch vor zehn Jahren wäre so ein Kongreß über den Zauberberg undenkbar gewesen. Damals hätten die Leute gedacht: Da will uns einer an den Kragen."
Ausgestorben ist diese Meinung bis heute nicht. Auf einen älteren Herrn, der namentlich nur als Konstrukteur von Bergbahnen und erfolgreicher Hotelier zitiert werden möchte, wirkt das "Thomas-Mann-Fabrikat" immer noch wie ein rotes Tuch. Mann habe aus einem "wohltätigen einen gräßlichen Ort" gemacht. Helle Wut überkommt den grantigen Senior beim Anblick all der "dummen Leute, die aus Europa herkommen, um einen Fasching um diesen dummen Literaten zu machen, der mit seinen Phantasieprodukten meiner Familie und der Ärzteschaft schweren, schweren Schaden zugefügt hat. Wissen Sie, was ein Fasching ist?"

epidermales Gruseln
Ja, wenn es wenigstens ein Fasching gewesen wäre! Mich befiel bei so manchem Vortrag im Kongresszentrum jenes epidermale Gruseln, das man volkstümlich als Gänsehaut bezeichnet. Castorp bekam es, als sein toter Vetter auf spiritistischem Wege zum Wiedererscheinen gebracht wurde. Hingebungsvoll zelebrierten die meisten vortragenden Koryphäen der Mannforschung jenes "Gesellschaftsspiel", dessen Regeln Adorno so beschrieben hat: "Erst steckt der Thomas Mann Intentionen herein, und dann kommt der Literaturhistoriker, und holt die Intentionen, die er hineingesteckt hat, wieder heraus." Mann-immanenter und hermetischer gegen die Gegenwart abgeschirmt als es der große Egozentriker selber war, umkreisten sie ihr Zentralgestirn. Der "Zauberberg" sei kein Davos-Roman, verlautete gleich zu Beginn. Unter dieser Devise brach man ungestört von Ort und Zeit zu akademischen Klettertouren in das Gehäuse Mannscher Begrifflichkeit, Mythopoetik und Verweisungskunst auf. Nur selten einmal kam eine Ahnung von der aktuellen Bedeutung und Lebenskraft des Zauberbergs auf. Doch die paar Minuten, die im rigiden Zeitplan zur Diskussion vorgesehen waren, nutzten die Herren Kollega zum Korreferat.

Entdeckerglück
Trotzdem summte Davos. Mochten die Referenten den Roman auch getreu den Vorgaben des Meisters als eine der Wirklichkeit innerlich überhaupt fremde und äußerlich kaum noch verwandte Übertragung und Einstilisierung behandeln, so konnten weder sie selber noch gar ihre in summa brav lauschenden zahlenden Zuhörer sich von der Magie befreien, die ein Ort annimmt, der zum Gegenstand einer großen Erzählung geworden ist. Die Verbindungen zwischen Roman und Wirklichkeit mögen noch so verdorben oder fadenscheinig sein, sie werden von der Phantasie wiederhergestellt, und sei es an einem anderen Ort. Es mag ein dummes, ein unaufgeklärtes, ein unvernünftiges Glück sein, das man empfindet, wenn einem ein Stückchen Realität begegnet, das als Materialisierung der künstlerischen Phantasie erscheint, aber es ist herrlich. So ging es mir, als ich auf einen der Liegebalkons des Hotels Schatzalp oberhalb von Davos kam: da standen zwei dieser famosen Liegestühle, gelb gestrichen, aus Bambusrohr. Ich konnten sie betasten, mich hineinlegen, ins Tal hinunterschauen, gar nichts denken oder Castorps altkluge Betrachtung lesen: "Fünftausend Fuß hoch liegen wir auf unseren Stühlen, die auffallend bequem sind, und sehen auf die Welt und Kreatur hinunter und machen uns unsere Gedanken." Ja, das gibt einem plötzlich eine Sicherheit in der Welt, für einen Augenblick jedenfalls, wenn so ein Liegestuhl und ein schöner Satz über einen Liegestuhl zusammenpassen.
Überhaupt die Schatzalp: dort, im alten Luxussanatorium für die Reichsten und Adligsten kann man wahrhaftig eine Zauberberg-Ambiance haben, weil die Besitzerfamilie in den Sechzigern kein Geld hatte, als aus Davos die Tuberkulose vertrieben wurde (die bald wiederkommen wird, wenn AIDS nicht zu stoppen ist). Alles, mit Ausnahme der Lampen im Saal, ist Jugendstil: der Kamin und die Bar und die Sessel, in denen man versinkt, während der Pianist ein bißchen Grieg spielt. Und echt Beardsley-Jugendstil war auch der alte Herr, der mir dort, die Beleuchtung war schon herabgedunkelt, einige Geheimnisse seiner Freundschaft mit Klaus Mann verriet und von Visiten bei Großschriftstellers in München so in den Zwanzigern erzählte, als Klaus ihn warnte, das Studio des Vaters zu betreten... Unter Patienten hieß der Saal schon immer die Lästerhalle.

Die Zauberberg-Stelle
Eine Stelle gibt es in Davos, die ist immer noch der Ort des Zauberbergs. Wenn man vom Waldhotel Bellevue aus den schmalen Wanderweg hinaufsteigt Richtung Schatzalp und Strelapaß, kommt man nach etwa zehn Minuten noch in der Waldzone an eine Wiesenmulde, die etwas seitab neben dem Pfad liegt. Wenn man sich auf den Findling dort setzt, umhüllt vom Lärm des Schiabaches, der nebenan herabschießt, ist vom unten liegenden Davos nichts mehr zu sehen. Nur noch die Berge gegenüber und der Himmel sind da und man sitzt dort geborgen und erhaben. Man kann sich gut vorstellen, daß dies Hans Castorps Lieblingsort war. Hier bekam er das Nasenbluten, das ihn seine doppelte Liebe zu Pribislav Hippe und zu Madame Chauchat, die irgendwie eins waren, ahnen ließ, hier duellierten sich die Schwätzer Settembrini und Naphta, hier saß er, um zu regieren. Mit diesem kindlichen Ausdruck bezeichnet Hans Castorp seine civilistisch-verantwortlichen Geistesexercitien über Gott, Leben und Welt, Botanik und Physiologie. Die Mulde ist ein verkleinertes und stilisiertes Abbild des Tals von Davos: herausgehoben, ohne deutlichen Ausgang, ein Ort zum fortwährenden Bleiben, das Hans Castorp, wohlversorgt, als orgiastische Freiheit erlebte - bis der Krieg ausbrach. Unten, eine Etage tiefer, in Davos-Platz, hat vor kurzem ein Chinarestaurant aufgemacht. Es heißt "Restaurant Zauberberg."
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Literatur:
Ernst Halter: Davos - Profil eines Phänomens, Offizin-Verlag, Zürich, 1994, ausführlich zu allen Aspekten der Davoser Geschichte und des modernen Davos.
Die kursiv gesetzten Stellen stammen aus dem Zauberberg oder aus Thomas Mann: Selbstkommentare zum Zauberberg", Fischer Verlag Frankfurt

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 40, 30.9.1994