Tobias Gohlis über Europaexpress. Ein literarisches Reisebuch.



Nagelmackers Erben

Leider kein Narrenschiff

Zehn Schwarze östlich von Hannover

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Thomas Wohlfahrt, Christiane Lange: Europaexpress.
Ein literarisches Reisebuch.
Eichborn-Berlin, Frankfurt/Main 2001,
800 S.

 

 

 

 

Einhundertdreimal Ich

Sechs Wochen reisten Schriftsteller aus allen Ländern durch Europa, von Lissabon über Moskau nach Berlin. Ihre gesammelten Reiseberichte wiegen mehr als das Kursbuch der Deutschen Bahn


Sähe Europa anders aus, weniger zerrissen, weniger bürokratisch zusammengezwungen und verwaltungstechnisch verwirrt, kulturell und nicht nur durch den Euro geeint, wenn der Belgier Georges Nagelmackers seine Pläne hätte realisieren können? Sieben Hauptstädte sollte sein in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts geplanter „Nord-Süd-Express“ verbinden. In luxuriösen Schlafwagen mit Radkonstruktionen, die an die unterschiedlichen Spurweiten Europas angepasst werden konnten, sollten Frau Gräfin, Herr Bürger und Genosse Anarchist die fast 5000 Kilometer von St. Petersburg bis Lissabon zurücklegen, ohne von einer einzigen Zollstation aufgehalten zu werden. Nagelmackers Transportutopie eines im Schlafe vereinten Europa scheiterte an nationalistischen Egoismen. Übrig blieb ein Reiseveranstalter: Die Compagnie Internationale des Wagons-Lits.

Nagelmackers Erben
Und ein Streckenplan. Nagelmackers Erbe traten 103 Schriftsteller aus 43 Ländern an, die im Sommer 2000 von Lissabon zu einer sechswöchigen Pauschalreise durch 19 europäische Städte aufbrachen. Auf einer lassoförmigen Route streiften sie u.a. Frankreich, Belgien, die Expo, etliche baltische Städte, Kaliningrad, Minsk, Moskau, Brest, Warschau, Endstation war Berlin. Ihr Literaturexpress sollte nach der binären Zwecksetzung transportation and translation durch Bewegung Verständigung in Europa nähren. Noch am Start der Karawane waren höhnische wie gigantische Vergleiche schnell zur Hand. Einige Beobachter wähnten im Literaturexpress ein Narrenschiff nach dem Vorbild Sebastian Brants unterwegs, Thomas Wohlfahrt von der veranstaltenden Literaturwerkstatt Berlin hoffte, eine große Soziale Plastik nach Beuys werde wahr.
Das täglich geführte Internettagebuch der Reise verzeichnet wenig große Worte. Von guten Betten, Kopfschmerzen und portugiesischem Wein berichtet der Belgier Nicolas Ancion, auch dass Lissabon im Juni nach Vanille und Fisch riecht. Ob José Saramago beim nobelväterlichen Abschiedsgruß an die startenden Argonauten auch an seinen Roman Das steinerne Floß erinnerte, in dem sich die iberische Halbinsel schwimmend vom Rest Europas absondert, ist nicht überliefert.

Leider kein Narrenschiff
Blättert man nun im literarischen Reisebuch Europaexpress, wünscht man sich, die Expedition wäre mehr Narrenschiff und weniger soziale Plastik geworden. Mit Entgegennahme des Handgeldes hatte sich jeder der Autoren nicht nur darauf verpflichtet, so und so viele Hände von Kulturträgern, Ministern und Europäern zu schütteln, bei Trainstops eigene Texte und Gedanken zum Vortrag zu bringen et cetera, sondern auch einige Seiten Resümee zu liefern. Auf dem nun zunächst auf Deutsch (andere Sprachen folgen) vorliegenden, aus kleinen und großen Idiomen übersetzten Werk, das an Format, Umfang und Gewicht lässig das Kursbuch der ihre Strecken eindampfenden Deutschen Bahn AG übertrumpft, liegt erkennbar die Last der Gruppe. Wer in Gemeinschaft unterwegs ist, erlebt hauptsächlich Gemeinschaft. Das hat manch schöne Kollegenbeobachtung, die eine oder andere Liebelei und viel Rotation um die eigene Achse erbracht: Der Literaturexpress als rollende Selbstreferenzialität. Da war ein Handtaschendiebstahl schon ein Einbruch.
Viele Beiträge, ein halbes Jahr nach dem Ereignis entstanden, schreiben sich mühsam vom Reiserausch los, sind noch dem Rhythmus des stop and go verhaftet: „Der Zug hält. Alle steigen aus.“ Neunzehn Mal, alle drei Tage. Erstaunlich, wie wenig das unbekannte Fremde erfasst werden kann. Den Schriftstellern fehlen die Worte. Stattdessen: Gestammel und Phrasen. „Sowjetische Städte waren geschlossene Städte, was der Idee der Stadt von vornherein widerspricht.“ „Russland war das erste wirklich andersartige Land auf unserer Reise durch Europa.“ Viele Autoren aus den armen Ländern Osteuropas schreiben tapfer gegen akuten Bewusstseinsverlust an. Valentina Soloveva aus Kaliningrad: „Also, folgendes Ereignis steht bevor: Zum ersten Mal in meinem Leben überschreite ich die Staatsgrenze..“ Der Ukrainer Yuri Andrukhovych ertappt Dichter als Touristen: „Die westlichen Kollegen .. fotografierten massenhaft Bettler, Babuschkas mit Kopftüchern, schmutzige Kinder, herrenlose Katzen und Hunde sowie Milizionäre... Auch die Ostler bekamen, was sie wollten: Sie verließen ihre Hotels überhaupt nicht und ertränkten den chronischen Weltschmerz mit Wodkadämpfen.“ Annie Saumont, Goncourtpreisträgerin von 1981, notiert: „Wörter, um es zu sagen. Daran hat es uns gefehlt. An den Wörtern einer gemeinsamen Sprache. Angesichts der bestürzendsten, bewegendsten, absonderlichsten Straßenszenen schwiegen wir. Nein, wir schwiegen nicht, wir sprachen Englisch.“

Zehn Schwarze östlich von Hannover
Was Europa sei. Ob es verändert wurde durch die Staatsbesuche der Dichter, war die Hauptfrage aller Berichterstatter auf den Empfängen. Und ob man es glaubt oder nicht, das Buch beantwortet sie. In das Wiederkäuen und angestrengte Vermeiden der Baedeker-Klischees mischt sich hin und wieder ein kleines Staunen. Die Drucktürknöpfe im Lissaboner Hotel, eine junge einbeinige Schönheit im Minirock, die weißen Nächte von Petersburg, etwas Gelb am Morgen, Seifenstücke. In den sieben Ländern östlich von Hannover sah die farbige Autorin Bernardine Evaristo nur zehn schwarze Menschen. Mehrere Autoren behelfen sich mit Listen: sie notierten die Nummern ihrer Hotelzimmer, ihre Ausstattungsmerkmale, den Service. Auch die tagebuchartig reportierenden Gedichte haben Verzeichnischarakter. Reihen von Notizen, Katarakte von Signalen. Entdeckungen: in Europa gibt es vier Schriften, unzählige alkoholische Getränke. Ein Reisebuch, das nichts erklärt, fast nichts weiß, gerade dort, wo die Anstrengung unternommen wird, das Tunnelerlebnis auf Begriffe zu bringen. Viele Aufsätze, wenig Vertrauen in Beschreibung. Europa durch die Brille seiner Autoren: viel Stehsatz, kaum Beobachtung, alte Krux des 18.Jahrhunderts. Man sieht nur, was man weiß. Selten mehr.
Und natürlich wissen sie das alles selbst. Programmatisch rechtfertigt die Schweizerin Christina Viragh das Reisen in eigener Sache als Betreten von leeren, bedeutungslosen Räumen, die erst im literarischen Verarbeitungsprozess Sinn erhalten. Da wird ihr in Kaliningrad nicht die allgegenwärtige Miliz, sondern eine Telefonzelle zur Stimmungsträgerin. Aufgetaucht - verschwunden. Europaexpress ist Skizzenbuch, Exposésammlung, Reisetagebuch. So viele kluge Zitate, so viele Versuche, hin und wieder ein seltener Ausflug in Surrealität. Kaum ein Text ist fertig – die Koffer sind noch nicht ausgepackt.
„Ich entwickle mich nicht, ich reise.“ Ein Satz Fernando Pessoas, der Jean Métellus (Paris) nicht aus dem Sinn geht. Soll man Europaexpress lesen? Na klar doch. Wie will man sonst etwas über den Bewusstseinszustand von 103 Europäern erfahren? Leo Tuor aus der Schweiz: „Als der Literaturzug in Berlin ankam, ging die Literatur unter... Höchste Zeit, in meine Berge zurückzukehren...“ Vitalie Ciobanu (Moldawien): „Unvergesslich der Besuch im Smolny, der große Saal, wo man den Sieg der bolschewistischen Revolution verkündet hatte, und der Wodka, den man uns in einem der Nebenräume anbot.“
Was aber bleibet, stiften die Sponsoren. Noch.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 41/ 2001 Literaturbeilage