Tobias Gohlis über Europa-Thriller

 




Coq Rouge – Hure der schwedischen Neutralität

Am finnischen Thrillerwesen soll Europa genesen

Machiavellistisch: Giuseppe Genna

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Jan Guillous 10 Coq-Rouge-Romane sind als Piper-TB erhältlich.

Ilkka Remes: Ewige Nacht
Aus d. Finnischen v. Stefan Moser dtv, München 420 S., 14,00 €

Giuseppe Genna:
Fass nicht an die Haut des Drachen. Aus d. Italienischen v. Luis Ruby
dtv, München. 456 S. 15,00 €

 

 

 

Europäische Thrillerunion

Giuseppe Genna, Ilkka Remes und Jan Guillou vermessen eine Verschwörungszone

EU – das Kürzel ist gut für jede Menge Sorgen, Furcht und Paranoia. Und wo Ungewißheit wohnt, da wächst der Krimi auch.

Die Realität der europäischen  Strafverfolgungsbehörden: ein Buch mit sieben Siegeln. Unter EUROPOL mag sich noch der eine oder andere EU-Bürger etwas vorstellen. Einige deutsche sind vielleicht sogar stolz darauf, daß zeitgleich mit der Kür Ratzingers zum obersten Katholiken auch ein Max-Peter Ratzel aus Wiesbaden zum Direktor dieser höchsten europäischen Polizeibehörde ernannt wurde. Doch was sich hinter den Akronymen TREVI oder SIS verbirgt, was die Europol-Drogen-Einheit tatsächlich treibt, das wissen nur noch Fachleute.
Albträume suchen nach Ventilen. So konnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis Europa als Verschwörungszone und Thrillerschauplatz unter die skeptische Lupe der Fiktion geriet.

Coq Rouge – Hure der schwedischen Neutralität
Erstmals geschah das 1986, als der Schwede Jan Guillou seinen aus allen -Ismen der Zeit zusammenkarikierten Superagenten Coq Rouge ausschickte. Vor Geburt adelig, ein Graf Carl Gustaf Gilbert Hamilton, ließ sich der Millionär und Maoist zur  Kampfmaschine ausbilden. Als „demokratischer Terrorist“ (so einer der zehn Serien-Titel) dient er der europäischen Machtbalance. Coq Rouge ist die Hure der schwedischen Neutralität. Die Stockholmer Obrigkeit leiht ihn als Hitman an jene Staaten und Geheimdienste aus, denen Völkerrecht und Diplomatie eigenes bewaffnetes Eingreifen verbieten. Am Ende seiner Laufbahn hat Hamilton Palästinenser für die Israelis und Israelis für die Palästinenser, Russen für Gorbi, Mafiosi für die CIA, RAF-Leute für den BND und wer weiß wen noch umgebracht, sein Safe quillt über von Orden miteinander befeindeter Länder, sein Körper ist voller Narben und sein Verstand leer. Coq Rouge – das ist am Ende die traurige, alternde, schwedische Hybridversion eines James Bond, erzählt mit Augenzwinkern, maßloser Übertreibung und scharfem Blick auf einen Gewaltapparat, der nur eins im Sinn hat: sich selbst zu verewigen.
Europa als politisches Hurenhaus, die Helden Söldner, Aufrechterhaltung der herrschenden internationalen Machtverteilung durch Konspiration und Mord, Mißtrauen und Skepsis  – das sind Vorgaben, an denen sich die Nachfolger messen lassen.

Am finnischen Thrillerwesen soll Europa genesen
Nachfolger Nummer eins kommt dieser Tage aus den Randzonen des alten Europa auf den Ladentisch. Der Thriller „Ewige Nacht“ des Finnen Ilkka Remes beginnt im Getümmel zwischen Globalisierungsgegnern und Berlusconis Polizeitruppen. Was im Sommer 2001 in Genua als Straßenschlacht beginnt, weitet sich aus. G1, eine finnisch-deutsch-kongolesische Truppe von Ökoterroristen klaut in Rußland eine Atombombe, mit der die in der Art angelegte Selbstvernichtung der Menschheit radikal beschleunigt werden soll. Gegenspieler dieses infamen Anschlags ist ein Teddybär von Polizist aus Finnland, Timo Nortamo. Seit kurzem ist der Familienvater Mitglied der ultrageheimen europäischen Superpolizei TERA.
Ist es Wunschtraum, ist es Größenwahn? Remes hat sich seine erfundene Organisation als verbesserte Ausgabe der real existierenden TREVI gedacht, mit der sie das Ziel teilt: Kampf gegen Terrorismus, Extremismus, Radikalismus. Was immer das juristisch sein mag. TERA operiert „unabhängig von den anderen Institutionen der EU – geheim, flexibel, den jeweiligen Aufgaben gemäß.“ Man ahnt: Timo Nortamos Pate ist Tom Clancys Jack Ryan, der es vom CIA-Berater bis zum Präsidenten der USA gebracht hat. So können wir noch mit manchem Thriller rechnen, in dem die europäischen Sicherheitsdienste am sanften, aber entschiedenen finnischen Wesen genesen werden. Denn ohne Nortamo, der, zunächst als Außenseiter kaum ernstgenommen, nach Ausflügen in den Kongo schließlich nicht nur das Leben seines entführten Sohnes, sondern auch die Menschheit rettet, läuft bei TERA nichts. Politisch: Lobhudelei auf eine europäische Geheimdienstpolizei mit finnisch-menschlichem Antlitz. Literarisch: ein auf dem Niveau von C-Movies zusammengeschustertes Desaster, in dem von Kinderschändung bis zu Genmanipulation und Kolonialismus kein Geifer-Thema unverhackstückt bleibt.

Machiavellistisch: Giuseppe Genna
Um etliches raffinierter klingt da eine Botschaft aus dem Lande Machiavellis. Just im September 2001 hatte der Mailänder Giuseppe Genna mit dem Thriller „Im Namen von Ismael“ einen Schlüsselroman über die Ermordung des Industriemagnaten Enrico Mattei vorgelegt. Darin ermitteln die Inspektoren Montorsi und Lopez gegen eine nicht faßbare amerikanische Geheimdienstorganisation, die über Jahrzehnte wichtige Persönlichkeiten ermordet, um den amerikanischen Einfluß über Europa zu sichern. Auch im nachfolgenden Thriller „Fass nicht an die Haut des Drachen“ verfolgt die neu gegründete Europäischen Sicherheitsagentur das Abwehrziel, die USA aus Europa herauszuhalten. Montorsi ist ihr Leiter, Lopez ein frisch rekrutierter Agent.
Herbst 2002. Während sich andere europäische Polizeieinheiten mit Albernheiten wie der Suche nach islamistischen Terroristen abgeben, stößt Lopez auf ein Netzwerk von Fleisch,- Menschen- und Drogenhändlern, in dessen Mitte in Montecarlo ein geheimnisumwitterter Chinese hockt. Kaum hat Lopez mit höchstem Aufwand etwas Substantielles ermittelt, wird er vom Chef zurückgepfiffen. In seinem Kampf gegen die „Ismael“ verwandte, unter dem Code „Frischfleisch“ operierende Geheimorganisation offenbart sich Lopez scheinbar die alte Weisheit: Je höher einer in der Hierarchie aufsteigt, desto korrupter ist er, Macht und Korruption sind untrennbar. Wieder gelingt dem bekennenden Ellroy-Schüler Genna ein herrlich blasphemischer Thriller. Jeder Satz macht Hackfleisch aus der Illusion eines demokratischen und friedlichen Europa: 1,3 Milliarden Chinesen lauern ante portas.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in Der Literarischen Welt Nr. 42 vom 22.10.05