Tobias Gohlis über Tom Franklin: Die Gefürchteten

 


Der Schlund der Hölle

Macky erschießt seinen ersten Mann

Knechtschaft und Gewalt

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Aus dem Amerikanischen
von Wolfgang Müller

 

 

Wenig Korn, viel Hölle

Clarke County in Alabama liegt weitab vom Schuss. Mit einer Bevölkerungsdichte von neun Menschen pro Quadratkilometer ist es heute so dünn besiedelt wie Mali oder Niger. Vor hundert Jahren haben noch weniger Menschen dort gewohnt. Und doch war auch dieser elende Landstrich einst einbezogen in weltweite revolutionäre Hoffnungen. Friedrich Engels, der 1890 vom fernen London aus mal wieder in einem Vorwort zum Kommunistischen Manifest den Stand der Weltrevolution bilanzierte, erkannte bei seinem Überblick von „Sibirien bis Kalifornien“ auch „das kleine und mittlere Grundeigentum der selbstarbeitenden Farmer, die Grundlage der ganzen politischen Ordnung Amerikas“ als Faktor der herannahenden revolutionären Krise.

Tatsächlich hatte das System des „Share-cropping“ vor allem im armen Süden der USA zu katastrophalen Zuständen geführt. Die Landpächter, die mit der Ernte ihren Lebensunterhalt und die Pacht bestreiten mussten, waren an die Landbesitzer und Händler verschuldet, ihre Erzeugerpreise ins Bodenlose gefallen. Eine der Führerinnen der damaligen Populistenpartei brachte die Wut auf den Punkt, als sie die Farmer anstachelte „to raise less corn and more hell“.

Der Schlund zur Hölle
„Hell-at-the-Breech“ – am Schlund zur Hölle nannte sich denn auch eine Gruppe verarmter Pächter in Clarke County, die 1897/ 98 die Ermordung eines Landhändlers zum Anlass nahm, eine Bande von Vigilanten zu bilden. Sie maskierten sich mit Getreidesäcken, zwangen ihre Nachbarn zur Unterstützung, ermordeten die Unwilligen und beraubten vorbeiziehende Händler, bis ihr Treiben von einem Lynchmob aus rechtschaffenen Städtern mit einem Massaker beendet wurde. Der Schriftsteller Tom Franklin, selbst aus Clarke County gebürtig, hat die Geschichte jener als „Mitcham War“ in die Annalen eingegangen Fehde in seinem ersten Roman Die Gefürchteten aufgegriffen und neu erzählt.

Macky erschießt seinen ersten Mann
Vierzehn Jahre ist Macky, als er das Töten lernt. In der eindrucksvollen Eingangszene muss der Junge, der mit seinem älteren Bruder als Adoptivkind bei einer Hebamme aufwächst, einen Wurf junger Hunde ertränken. In der Nacht danach erschießt er seinen ersten Mann. Um an das Geld für einen Besuch bei der Gemeindeprostituierten zu gelangen, spielen die beiden Jungs ein bisschen Straßenräuber. Aus Versehen löst sich ein Schuss – und der Händler Arch Bedsole, eben noch auf dem Erfolgsweg zum Kongressabgeordneten, zuckt im Staub der Straße.

Von Revolution ist keine Rede. Der Kleinkrieg, den einige Desperados nach der Ermordung ihres Kandidaten beginnen, wird vom ersten Moment an von einem psychopathischen Mörder dominiert. Die Haltung, mit der Tom Franklin die Geschichte jenes Jahres 1897/98 mal aus der Perspektive des jungen Macky, mal aus der des überforderten Sheriffs Waite erzählt, ist die verzweifelten Mitleids. Es ist, als trauere der Autor der Unschuld nach, die der junge Macky verlor, als er die Welpen im Fluss ersäufte.

Denn die Welt der Erwachsenen ist erbarmungslos. Franklin schildert eine Welt aus Not, Knechtschaft und Gewalt. Eine seiner eindrucksvollsten Figuren ist der Farmer Norris, dessen gesamter Wille so ausschließlich auf die Erntearbeit konzentriert ist, dass er sie nicht einmal unterbricht, als seine Frau auf dem Baumwollfeld tot zusammenbricht. Erst nachdem er sein Tagessoll erfüllt hat, bringt er die Frau unter die Erde und ihren Säugling fort. Seine beiden älteren Jungen, die geprügelt werden, wenn sie spielen statt zu arbeiten, wissen, wohin: in den Fluss.

Knechtschaft und Gewalt
Das Gesetz ist gegen die Bauern, also handeln sie gegen das Gesetz. Norris muss sein Land verlassen, weil er keine Quittung für die bezahlte Pacht vorweisen kann. Eine Familie wird von Haus und Grund vertrieben, weil die Ermordung des Vaters als Nichterfüllung des Pachtvertrages gilt. Doch bevor sich die Bauern zusammenrotten können, fallen die Städter, verleitet von einem ehrgeizigen Richter und einem Soziopathen, über sie her. Die Posse knüpft auf, verbrennt, erschießt – nicht die Vigilanten, sondern jeden, der wie ein armer Farmer aussieht und aus der undurchdringlichen Wildnis des Bear Thicket auftaucht. Auch der Sheriff, alt und längst nicht mehr in der Lage, der Gewalt der Verhältnisse mit der Gewalt des Gesetzes zu begegnen, macht sich schuldig, wie alle. Er lässt zu, dass der unbewaffnete Anführer der Vigilanten im Kugelhagel zerfetzt wird. Recht, Gerechtigkeit, Schutz der Schwachen – Franklin steigt bis in Brusthöhe ein in die Zeit, in der diese Werte der Zivilisation kaum einmal zu ahnen waren. Ein Blick zurück in Trauer.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 23 vom 2. 6. 2005