Tobias Gohlis über Nicci French: Blauer Montag

 


Gezielter Zufall

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Nicci French:
Blauer Montag

Aus dem Englischen von Birgit Moosmüller

 

Frieda überschreitet Grenzen

Sehr selten: ein guter psychologischer Kriminalroman

Der Standard-Psychothriller hat viel mit dem Standard-Regio-Krimi gemein. Beides sind meist literarische Unglücksfälle, in denen äußerst schlichte Kriminalhandlungen mit etwas Psychischem bzw. Lokalem kombiniert werden. Nur selten zeichnen sie sich durch ein gewisses Verständnis – von intellektuellem und ästhetischem Begreifen gar nicht erst zu reden - des Seelischen oder des Lokalen aus.

Umso erfreulicher ist es, wenn einmal ein Kriminalroman auftaucht, der sich kenntnisreich, sachlich kompetent und angemessen auf dem schwierigen Gebiet extremer seelischer Verwerfungen bewegt. Die Genrekennung "Psychothriller" für das jüngste Buch des englischen Ehepaars Nicci Gerrard und Sean French, das unter dem gemeinsamen Nom de Plume Nicci French veröffentlicht, lässt jedenfalls ein wesentlich schlechteres Buch erwarten. In Blauer Montag tobt kein wahnsinniger Psychopath durch London, im Zentrum steht eine professionelle und äußerst beherrschte Psychotherapeutin. Frieda Klein lehnt die Couch ab, sie sitzt ihren Patienten von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Ihre innere Unruhe agiert die Schlaflose wie seinerzeit Charles Dickens in nächtlichen Märschen durch London aus. Im Zusammenhang mit ihrer therapeutischen Arbeit würde sie niemals einen Schritt ins Freie tun. Sie beschränkt sich auf die vier Wände ihrer Praxis und auf die Probleme ihrer Patienten, denen sie gesprächsweise hilft, besser damit umzugehen. Auf keinen Fall greift sie, so eine ihrer Regeln, ins Leben ihrer Klienten ein, und kein Fremder darf ihre Privaträume betreten.

Gezielter Zufall
Dass sie dies alles und noch mehr dann doch zulässt, liegt an der wiewohl realistischen, dennoch fröhlich mit dem Zufall spielenden Erfindungsgabe Nicci Frenchs. Kaum hat Frieda das anamnetische Gespräch mit ihrem durch die Umstände aufgenötigten neuen Patienten Alan Dekker begonnen, fällt ein ukrainischer Maurer durch die Zimmerdecke. Dieser Josef entwickelt sich in der Folge zum pragmatisch-handfesten Kumpel. Den braucht Frieda auch, denn nur kurze Zeit später ist sie in die neue Rolle einer vom ruppigen Detective Inspector gerade so geduldeten Mit-Ermittlerin bei dem Entführungsfall Matthew geschlüpft. Während Yellowpress und TV mit Volldruck auf die Tränendrüse nach dem fünfjährigen Matthew fahnden, stößt Frieda Klein auf die völlig unglaubliche Tatsache, dass ihr unter Potenzproblemen und Panikattacken leidender Patient Dekker bereits von dem Kind geträumt hat, bevor es verschwunden ist. Aber Dekker kann mit der Entführung nichts zu tun haben. Wohl aber erweisen seine Träume und Ahnungen sich als einzige Spur zu dem Kind. Obwohl in ihrer "Berufsbeschreibung nichts von Wahrheitsfindung" steht, lässt sich die verantwortungsbewusste Frieda über die Grenzen ihres Standes hinaus auf die Suche ein und kommt über kluge Intuition, neueste Erkenntnisse der Zwillingsforschung und Entwicklungspsychologie den Tätern auf die Spur. Der Methodenwettstreit zwischen Psychologie und Kriminalistik mit dem knurrig und konventionell ermittelnden Detective Inspector Karlsson steigert die Spannung noch. Zwar ist, wie meist im Leben, die Lösung des Falls nicht befriedigend. Das macht sie gerade plausibel. Nicci French plant mehr mit Frieda Klein: Sieben Romane sollen folgen. Not bad.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 06 vom 2.2.2012

Siehe auch: Tobias Gohlis über „Nicci French - In seiner Hand“