Tobias Gohlis über Tana French: Geheimer Ort

 


Tana French:
Geheimer Ort

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und
Klaus Timmermann

 

Gefährliches Alter

Tana French erkundet einen Mord im irischen Mädcheninternat

Unter einigermaßen aufgeklärten Leuten ist es ein Allgemeinplatz, dass jeder und jede von uns imstande ist zu töten. Viele Faktoren – Erziehung, innere Stabilität, äußere Umstände – wirken zusammen, wenn jemand zum Mörder wird. Aber außer Jugendpsychologen hat kaum jemand jene emotional und intellektuell aufgewühlte Lebensspanne erforscht, in der jeder von uns alles sein und vor allem alles tun kann. Bei jungen Männern liegt sie meist zwischen dem siebzehnten und achtzehnten Lebensjahr, bei jungen Frauen ein Jahr früher, zwischen fünfzehn und sechzehn. In diesen ein bis zwei Jahren liegen Martyrium und Mord manchmal nur einen Lidschlag auseinander. Dieser höchst gefährliche Lebensabschnitt war immer schon das Terrain aufregender literarischer Erkundungen. In dem hat nun auch die irische Autorin Tana French ihren faszinierenden Kriminalroman Geheimer Ort angesiedelt.
Fünfzehn waren die beiden miteinander rivalisierenden Mädchenquartetts im katholischen Nobelinternat St. Kilda, als dort im Park der attraktive Chris Harper vom "zwei extrahohe Mauern" entfernten ebenso noblen Jungeninternat mit eingeschlagenem Schädel aufgefunden wurde. Jetzt, ein Jahr ohne wirklichen Ermittlungsfortschritt später, ist am "Geheimnisort", einem schwarzen Brett für anonyme Herzensergüsse, eine Postkarte aufgetaucht, auf der eine St. Kilda-Schülerin behauptet: "Ich weiß, wer ihn getötet hat." Das ist die Chance für den Endzwanziger Stephen Moran, der in der Abteilung für ungelöste Fälle abgestellt darauf lauert, zu den Besten aufzusteigen, in die Mordkommission. An ihn wendet sich Schülerin Holly mit dem Beweismittel. Sie vertraut den einfühlsamen Stephen aus einem früheren Fall und weiß als Tochter eines Detectives, wie man mit Polizisten umgeht, wie man sie manipuliert und benutzt.

Das Verhältnis Stephen – Holly ist nur eine der köchelnden Figurenkonstellationen, mit denen French das Spannungsgeflecht des Romans in einen Irrgarten aus Lügen, Halbwahrheiten und Selbsttäuschungen verwandelt. Ich-Erzähler Stephen und seine bizarr autokratische Vorgesetzte Conway haben kaum mehr als einen Tag Zeit, um die acht als Zeuginnen in Frage kommenden Mädchen aus zwei verfeindeten Cliquen zu vernehmen. Unterbrochen von Rückblenden in die Wochen vor Chris' Ermordung lässt French in den Verhören acht zickende, träumende, verliebte, verschworene, schlaue Teenies als Individuen plastisch werden – ein Erzählkunststück ersten Ranges. Die Ereignisse eines Jahres zusammengepresst in einen Tag der Vernehmungen an einem gefängnisähnlichen Ort – da ballen sich die pubertären Energien wie im Teilchenbeschleuniger zu Urknallkräften. Selbstauferlegte Schwüre wie der zu freiwilliger Keuschheit wirken wie Deckel auf dem Dampfkochtopf. Mord, Gewalt, Liebesexzess, Selbstopfer – alles ist in der Luft. Seit ihrem ersten Roman Grabesgrün (2007) wird Tana Frenchs Erzähltalent trotz Neigung zu Weitschweifigkeit und Metaphernplüsch gelobt, aber mit ihrem fünften Roman Geheimer Ort ist ihr ein Koloss von klassizistischer Stringenz gelungen: Von 700 Seiten – bravourös übersetzter – Prosa möchte man echt keine missen. Chapeau.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 06 vom 5.2.2015