Tobias Gohlis über Monika Geier: Die Herzen aller Mädchen




Ovids „Liebeskunst“

Nouvelle cuisine

Zeitgenössische Miss Marple

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Monika Geier:
Die Herzen aller Mädchen

 

 

 

 

 

Monika Geier hat ihren Sound gefunden

Der fünfte Roman mit Bettina Boll, der alleinerziehenden Mutter und krimininalistischen Halbtagskraft

Wie immer bei Monika Geier klingt der Titel ein bisschen merkwürdig: „Die Herzen aller Mädchen“. Wohin fliegen sie? Wem fliegen sie zu? Fliegen sie überhaupt oder flattern sie? Und „aller“, wie viele sind gemeint?
Ein Mädchen jedenfalls weiß, wohin das Herz schlägt: Bettina Boll, Kriminalkommissarin und Lebenszeitbeamtin, alleinerziehende Mutter der beiden Kinder ihrer verstorbenen Schwester, Fahrerin einer kakaobraunen Rostlaube von Taunus, rothaarig, ein bisschen schlampig und begnadete Ermittlerin, hat zwar den Mädchenstatus hinter sich, ist nichtsdestotrotz sehr mädchenhaft. Mädchen, scheint der Titel zu sagen, ist keine Alters- oder Reife-Kategorie, sondern signalisiert eher einen Grad der Liebesbereitschaft. Und der pendelt zwischen Bettina Boll und Gregor Krampe meist knapp unter dem oberen Anschlagpunkt. Krampe ist Wissenschaftler. Für Liebe wie geschaffen, so kommt es Bettina vor: elegant, gebildet, trotzdem nicht arrogant, irgendwie zart und doch… usw. Fachmann ist er für alte Bücher und für das Leben seines Vaters. Der war ein sagenhaft erfolgreicher Bestsellerautor und Verschwender. Bettina hat Gregor erstmals bei einer Fernseh-Talkshow gesehen. Da zog eine ungemein plumpe Wahrsagerin namens Anna Oberhuber plötzlich einen posthumen Roman des Vaters aus der Tasche, den dieser ihr aus dem Jenseits diktiert haben sollte.

Ovids „Liebeskunst“
Als kurz darauf der Witwe Krampe eine Paketbombe um die Ohren fliegt, wird Bettinas Interesse professionell, zumal sie selbst als frisch ernanntes Mitglied der Soko „Ovid“ bereits am anderen Ende der Familie ermittelt. Sohn Krampe ist nämlich Kurator einer Sammlung höchst wertvoller und seltener Bücher, die einem steinreichen Drogisten gehört. Nun ist die bisher älteste Fassung von Ovids „Liebeskunst“ (mitsamt von darbenden Mönchlein hinzugefügten pornografischen Illustrationen) im Drogistenmuseum aufgetaucht und wird von einer höchst dubiosen Versicherungsagentin und von Bettina Boll im Auftrag des BKA beschützt, das bekanntlich jedes nationale Kulturgut verteidigt. Die Liebeskunst ist in Gefahr geraubt zu werden. Der besondere Clou dieses Manuskripts: Die Wissenschaft hofft, über dieses Missing Link an den verschollenen Text von Ovids Medea -Tragödie zu gelangen. Daraus wird nichts, denn während einer Privat-Vernissage wird das Original der „Liebeskunst“ geklaut. Und Bettina, die unter der Bewunderung des Krampe-Sohns aufgeblüht war, ist nicht nur die Dumme, die dabei war, aber nichts mitgekriegt hat. Mit einer wundervollen Liebesnacht hat sie dem hauptverdächtigen Kurator Krampe auch noch ein Alibi gegeben. .

Nouvelle cuisine
Das klingt schwer nach Kolportage. Aber es ist keine. Denn Monika Geier plündert nur die Kolportage-Elemente, die sich in der Krimiliteratur von Umberto Eco bis Dan Brown, von Agatha Christie bis Mo Hayder angesammelt haben, mischt sie ordentlich durch und macht nouvelle cuisine daraus, mal deftig, mal subtil, aber immer aufregend, abwechslungsreich und auf höchstem Niveau, dabei immer mit einem hinterhältig neckischen Witz. Und einem wunderbaren Gespür für das Klischee. Etwa wenn die sowieso schon überforderte rührende alleinerziehende Mutter Bettina zum Direktor ihres Sohnes bestellt wird, um sie mal so richtig mit ihrem Versagen zu konfrontieren. Schließlich bringt nicht jeder Zehnjährige einen Dildo in die Pause mit. Seitenlang steigert sich der mitfühlende Leser in die Empörung der gebeutelten Mutter über den besserwisserisch auftrumpfenden Pädagogen hinein - bis der das Batteriefach des Geräts öffnet. Die Patronen darin können nur aus der Dienstwaffe der Kommissarin stammen. Komik entsteht, wenn Entsetzen in noch größeres Entsetzen umschlägt.

Zeitgenössische Miss Marple
Vier Krimis hat Monika Geier bisher geschrieben. In diesem fünften hat sie ihren Sound zur Vollendung gebracht. Gewisse Gespreiztheiten der Formulierung und Überdrehtheiten des Plots, die manche Passagen der vorausgegangenen Bücher etwas weniger genießbar machten, sind verschwunden. Hier ist alles ganz leicht und elegant, bissig, aber nie verbissen, böse, aber nicht bösartig. Bettina Boll hat sich zu einer wirklich zeitgenössischen Miss Marple weiterentwickelt: immer ein wenig unbeholfen, aber tapfer jeden Gegner angreifend, sehr schlau, intuitiv, allein durch ihre Existenz jede Art von Chauvinismus diskriminierend. Natürlich ist sie als Frau von heute nicht asexuell wie das Vorbild (und die schwachen TV-Imitationen), überhaupt weniger verkniffen, nur ein ganz klein bisschen anders, voller Staunen über all diese merkwürdigen Riten der Gesellschaft und erst recht die der Society. Das sind die glaubwürdigen Voraussetzungen dafür, dass ihr Schlaumeier wie Krampe eine neue Theorie über Ovids Medea anvertrauen und dass Verbrecher sie unterschätzen. Ihrem Scharf- und Spürsinn widersteht kein Rätsel und kein Geheimnis, sei es nun das einer gekränkten Familie oder einer lange zurückliegenden BKA-Operation. Und ganz nebenbei fällt mir bei allem Loben ein, worauf sich die Herzen aller Mädchen ausrichten könnten: auf diesen einzigartigen Vector W8, der seine Spur durch die Pfalz der Monika Geier zieht. Er war eines der Lieblingsfahrzeuge von Sean Connery.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung auf arte.tv Der Krimi des Monats 24.03.2009

Siehe auch: Tobias Gohlis über Monika Geier: Neapel sehen

Siehe auch: Tobias Gohlis über Monika Geier: Stein sei ewig