Tobias Gohlis über Michael Gruber: Wendekreis der Nacht

 


Literatur zaubert

Schwangere werden aufgeschlitzt

Magie oder Molekularbiologie?

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Michael Gruber: Wendekreis der Nacht, aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz

 

 

Wahre Zauberkraft

Was hat der menschliche Geist in den 90.000 Jahren vor Erfindung der Schrift getan? Womit hat er sich beschäftigt ohne TV, Bücher, Tontäfelchen? Vor den Augen einer zwischen Skepsis, Staunen und Anbetung schwankenden Hörerschaft hat der Anthropologe Vierchau soeben ein Ei aus der Luft gegriffen und aufgeschlagen. Eine Taube ist herausgeflogen.

„Ich bin Franzose, also dekonstruiere ich,“ kommentiert er seinen Trick. Und erklärt das Unmögliche. Ganz einfach: Er verfügt über Zauberkraft. Erworben hat er sie bei den Chenka in Sibirien. Die psycho- physiologischen Kenntnisse, die die Menschheit in 90.000 Jahren Austausch mit sich und der Umwelt entwickelt hat, haben sich die Chenka in die Gegenwart hinein bewahrt. Vierchau: „Das ist eine Technik. Sie funktioniert, ob Sie daran glauben oder nicht, genauso wie eine Pistole Sie erschießt, ob Sie nun daran glauben, dass es so etwas wie Pistolen gibt oder nicht. Mit dem Ei in der Taube eben habe ich ein Element dieser Technik vorgeführt, nämlich Kontrolle über das Bewusstsein einer Person oder einer Personengruppe durch eine andere.“

Literatur zaubert
Es ist selten, dass ein Autor seinen Lesern das Vergnügen bereitet, sie bis ins Detail in die Tricks seiner literarischen Überredungskunst einzuweihen – und sie doch nach fast jeder zehnten Seite erneut Staunen zu machen. Literatur hat was von Zauberei – und nicht die schlechteste, vom Erlkönig bis zu Harry Potter, zielt darauf, uns die Wahrheit des vorgeführten Zaubers glauben zu machen.

So wie Frank Schätzing für seinen Wissenschafts- und Weltbedrohungsthriller Der Schwarm mit mehr als nur Bemühen Meeresbiologie, Glaziologie und Spionagetechnik studiert hat, hat sich Michael Gruber Ethnologie und Anthropologie angeeignet. Schon der kleine selbstironische Schlenker, den er seinen Anthropologen Vierchau von Descartes zu Derrida vorführen lässt, signalisiert: Hier wird mit neuen Karten gespielt. Wer mitkommen will, muss ein bisschen was zwischen den Ohren haben. Michael Gruber hat Meeresbiologie studiert, als Redenschreiber für Clinton hat er seine Überzeugungskünste trainiert, aber perfektioniert hat er sie jetzt, in einem fulminanten Thrillerdebüt: Wendekreis der Nacht .

Der Anthropologe Vierchau ist eine wichtige Nebenfigur in Grubers literarischem Laborversuch, uns Leser davon zu überzeugen, dass es Zauberei und Zauberer, weiße und schwarze Magie tatsächlich gibt. Denn nur dann, wenn wir zumindest bis zur letzten Seite seines Romans von dieser Tatsache überzeugt sind oder sein wollen, funktioniert die Geschichte.

Schwangere werden aufgeschlitzt
In Miami geschieht Unvorstellbares: Hochschwangere Frauen werden bei lebendigem Leibe aufgeschlitzt, der Fötus wird entnommen, beide Körper werden ausgeweidet. Gruber geizt mit horriblen Details, erst nach und nach wird der verzweifelt ratlosen Polizei deutlich, dass hier ein Ritual praktiziert wird von jemandem, der sich unsichtbar machen kann. Der Täter geht durch Wände, taucht auf und verschwindet und verändert sein Äußeres, wie es ihm beliebt. Nur Jane Doe, Schülerin Vierchaus, selbst leidvoll erfahren in Santería, Chenka- und Yoruba-Magie, unter anderem Namen versteckt im Verborgenen lebend, weiß, worum es geht. Um großen, mächtigen, bösen Zauber: ein schwarzer Magier sammelt Energie, Energie, die destruktiver sein wird als die einer Wasserstoffbombe. Und, wie es aussieht, ist sie weit und breit die Einzige, die ihn aufhalten kann. Denn sie ist selbst geschult in Magie – und der Killer ist ihr Ehemann.

Magie oder Molekularbiologie?
Wie werden sie, die untergetauchte weiße Archivarin und der verstörte Detective Paz, ihn kriegen? Und werden sie sich kriegen? Selten hat ein Autor um diesen beiden wichtigsten Nebenfragen des Kriminalromans ein so fesselndes, intelligentes Szenario aufgebaut wie Gruber. Noch jetzt, nach der Lektüre, bin ich bereit, darüber nachzudenken, ob Magie nicht die gleiche Wirkungsmacht hat wie Molekularbiologie. Gruber hat mit Wendekreis der Nacht ein literarisches Ermittlungsverfahren fortgesetzt, das der schwarze Autor Ralph Ellison in einem der wichtigsten amerikanischen Romane des 20. Jahrhunderts zwischen 1948 und 1952 begonnen hat: In The Invisible Man hat er das Rätsel gestellt, wie ein Mensch völlig unsichtbar sein kann, ohne „eine Laune der Natur oder der Geschichte“ zu sein. Gruber greift Ellisons ontologisches Problem spielerisch auf, im Medium der unterhaltenden Literatur, und tut, was seit Horaz von den besten verlangt wird: Er erfreut und er nützt. Sehr, sehr mitreißend.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 41 vom 30.9.2004