Tobias Gohlis über Batya Gur: Denn die Seele ist in Deiner Hand/Israel Hame'iri: Symbiose



Gesucht: Der innere Schweinehund

Zwanghaft beschützte Biotope

Kindesraub

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Israel Hame'iri: Symbiose.

Aus dem Hebräischen von Markus Lemke


Batya Gur: Denn die Seele ist in Deiner Hand.

Aus dem Hebräischen von Barbara Linner

 

 

Tödliche Symbiosen

Im Norden Galiläas herrscht der Biologe Daniel beinahe unumschränkt über ein kleines Biotop. Selbst Armee und Polizei dürfen nur mit seiner Genehmigung das Naturreservat betreten, dem er vorsteht. Wenn er morgens den Blick über die Karstberge schweifen lässt und über die Häuser seiner Mitarbeiter, die am Hang unter ihm wohnen, ist er sich gewiss: "Das ist es, was das gemeinschaftliche Leben hier auf dem Berg so schön macht, das Miteinander von zwei, drei Familien und Leuten, denen nur eines wichtig ist. Die Natur."
Daniel ist Spezialist für Symbiose. Er erforscht das Zusammenleben von Feigenbäumen und Wespen, das System ihrer gegenseitigen Nutzung und Zerstörung durch Täuschungen und Selbsttäuschungen, trügerische Verlockungen und Scheinangebote. Längst ist die Forschungsarbeit, so konstatiert er befriedigt, in eine Lebensform übergegangen, in der alles ganz in Daniels Sinn bestens verknüpft ist.
Die Frauen seines Herrschaftsbereichs sind wie die Natur, die er versorgt, zu seinen Diensten: die eigene Ehefrau, die Frau des Pflanzenzeichners Jakob, die Wehrpflichtige Ruthi, die leichten Dienst im Reservat tun darf, weil Daniel sie angefordert hat. Doch eines Tages ist sie, die immer Pünktliche, nicht zum Dienst erschienen. Suchtrupps werden zusammengestellt. Daniel dirigiert und organisiert sie wie in Trance. Denn er weiß, worauf die Suche hinauslaufen wird, agiert aber, als sei jeder Schritt, den er auf dem karstigen Boden seines Territoriums tut, der erste in einer immer noch offenen Zukunft. Dabei weiß er, das lassen seine Monologe immer deutlicher ahnen, genauer, was geschehen ist, als ihm selber lieb wäre.

Gesucht: Der innere Schweinehund
Während sich die Suchaktionen von Polizei und Armee zwischen dem rebellischen Dorf am Fuß der Berge und dem "Schlund" genannten Höhlensystem oben im Reservat zersplittern, verfolgen wir Leser gebannt den Wettlauf in Daniels Bewusstsein zwischen dem offiziellen Leiter der Ermittlungen und dem inneren Schweinehund, der sich nicht eingestehen kann, dass er selbst Verursacher des Übels ist, ohne den Leiter von seinem Kommandothron zu stoßen.
Mehr kann über Israel Hame'iris auch sprachlich faszinierende Charakterstudie eines perfekt angepaßten Parasiten nicht verraten werden. Als Binnensicht einer vordergründig harmonischen Kleingesellschaft, die an der Verdrängung der ihr innewohnenden Gewalt schier explodiert, korrespondiert Hame'iris begeistert aufgenommener Roman Symbiose glänzend mit dem neuesten Buch der israelischen Kriminalgroßschriftstellerin Batya Gur Denn die Seele ist in Deiner Hand.

Zwanghaft beschützte Biotope
Auch hier wird ein zwanghaft beschütztes Biotop erschüttert. Auf dem Dach eines alten Hauses im Jerusalemer Multikulti-Vorzeigeviertel Bak'a liegt der geschändete Leichnam der 22-Jährigen Zohra. Inspektor Michael Ochajon, selbst von marokkanischen Einwanderern abstammend, stößt mit seinen Beamten auf vier Familien, deren Geschichte ebenso wenig ans Tageslicht kommen darf wie die Geheimnisse des "Schlundes" in Daniels Reservat. Doch handelt es sich in diesem, von Batya Gur in gewohnt einfühlsam und scharf charakterisierender Personenzeichnung ausgebreiteten Fall nicht um innere, sondern um äußere, israelische Geschichtsverwerfungen. Während beinahe alle Energien der Polizeikräfte gebunden sind durch aufwallende Auseinandersetzungen zwischen jüdischer und arabischer Bevölkerung, ermittelt Ochajon im Milieu der nach Herkunft und Sitten beinahe unvereinbaren jüdischen Gruppen.
Exemplarisch ist der Nachbarschaftsstreit zwischen den Beneschs, aus Ungarn eingewanderten Aschkenasim, und den kinderreichen Bascharis, die zu den jemenitischen Juden gehören. Diese sind nach zweitausendjähriger Diaspora mit einer großen Fluchtwelle Ende der vierziger Jahre nach Israel gelangt. Und - dies war tatsächlich mehrfach ergebnislos Gegenstand von Untersuchungskommissionen der Knesset - hunderte ihrer damals in Krankenhäusern und bei Pflegefamilien untergebrachten Kinder sollen ohne Wissen oder gar Zustimmung der Eltern zwangsadoptiert worden sein.

Kindesraub
Auch Zohra, die Ermordete, recherchierte in ihrer Familiengeschichte und der der Nachbarn einen derartigen Fall von Kindesraub. Doch schließlich stellt sich heraus, dass ein ganz anderer Aspekt der sozialen und ethnischen Gemengelage im neuen Israel ihren Tod verursacht hat. Auch wenn bei Batya Gur manchmal allzu deutlich die philanthropische Geste einer Oberklassendame die Feder führt - der unbestechliche Blick der israelischen Lady of Crime auf die Konflikte ihres Landes ist die Lektüre auch dieses langen Buches wert.

Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 21 15.5.2003