Tobias Gohlis über Jean-Claude Izzo: Solea




Die Liebe zu Marseille

Chronik einer sterbenden Welt

Chronik einer sterbenden Welt

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Jean-Claude Izzo:

Solea

Aus dem Französischen v. Katarina Grän u. Ronald Voullié, mit einem Verzeichnis aller zitierten Musikstücke

Total Cheops

Chourmo


 

 

 

Requiem für den Süden

"Marseille kann man nur lieben, wenn man vom Meer hereinkommt. Am frühen Morgen, in der Stunde, wenn die Sonne hinter dem Massiv von Marseilleveyre aufgeht, die Hügel umarmt und den alten Steinen etwas von ihrer Röte schenkt. Dann sieht man die Stadt so, wie Protis der Phokäer sie vor 2600 Jahren entdeckte."
Unter uns Nicht-Phokäern: Wer möchte sich Marseille nicht auf diese Weise nähern? Die Ruderpinne in der Hand, gegen den Landwind kreuzend, vorbei an den Inseln Pomègues und Ratonneau und am Château d'If, wo der Graf von Monte Christo schmachtete, schon mit Motorfahrt das Château du Pharo und das Fort St. Nicolas passierend in den Alten Hafen einfahren, anlegen, einen Pastis nehmen?

Die Liebe zu Marseille
"Irraisonné" - mit dem Verstand nicht erklärbar - erscheint Jean-Claude Izzo selber seine Leidenschaft für die Hafenstadt am Mittelmeer. Und weil das so ist, endet Solea mit einer Fahrt hinaus, zurück auf die Inseln, die wie natürliche Festungsbarrieren den Hafen schützen, muss so enden. Die einzig angemessene Route hinein nach Marseille ist zugleich der einzige Weg, der mit Würde hinausführt, wenn die Stadt am Ende ist.
Fabio Montale, ehemals Polizist, nun nur noch ein Bündel Trauer, Wut, Hass, Verzweiflung folgt ihm und gleitet - zwangsläufig - in den Tod. Mit einer Kugel im Rücken, einige Schlucke des geliebten, unverzichtbaren Lagavulin in der Kehle, treibt der Held aufs offene Meer: "Jetzt bin ich der Tod." Alle Schlachten sind geschlagen, verloren.

Chronik einer sterbenden Welt
Erst als er 50 war, wagte sich Jean-Claude Izzo an die Romanschreiberei. Da hatte er Militärdienst, Dschibuti, die Kommunistische Partei, die Leitung ihrer Regionalpostille namens Marseillaise und einige Gedichtbände hinter sich. Dann schrieb er rasch hintereinander: Total Cheops, Chourmo, Solea. Drei Polars - wie bei Franzosen die Krimis heißen - mit dem Antihelden Fabio Montale machten ihn schlagartig in Frankreich (und nach und nach in Resteuropa) berühmt. Izzo wurde für Marseille, was Manuel Vázquez Montalbán für Barcelona ist: Chronist einer verschwindenden Stadt am Mittelmeer.
Biografische und literarische Parallelen lassen sich beinahe allzu leicht ziehen: beide Autoren sind kritische Freunde ihrer jeweiligen Eurokommunisten, ihre Helden Trinker, Melancholiker und wissende Liebhaber der regionalen Küche und des internationalen Jazz. Vázquez Montalbán beendete die Aktivitäten seines Detektivs Pepe Carvalho in Barcelona (über Pepes argentinische Abenteuer demnächst an dieser Stelle) mit der Ruinierung der Altstadt durch die Olympiade; Izzo schickt den Expolizisten Fabio Montale ins Wasser, als Marseilles alte Werften und Industrieanlagen in eine "Küstenlandschaft" modernster Prägung verwandelt werden.

Tock Tock Tock
Mit Total Cheops schlug Izzo 1995 seinen unverwechselbaren Ton an, wiedererkennbar wie Tango. Montale, in der Ich-Perspektive erzählt von Izzo kaum unterscheidbar, durchstreift, getrieben von unstillbaren Einsamkeiten (nur der Plural wird ihnen gerecht) die Szenen seiner verlorenen Jugend, die Ruinen seiner Liebschaften, und die Bibliotheken seiner Lieder. Eines davon ist Solea. "Die Soleá ist das Rückgrat des gesungenen Flamenco", hat ihm einst Lole, die einzig Geliebte, verraten, und wer dieses Stück je in Miles Davis' Sketches of Spain gehört hat, weiß, was die Stunde geschlagen hat. Tock-Tock-Tock - unerbittlich unterbricht das Schlagzeug die melancholischen Einwürfe der Trompete wie das Klopfen des Totenuhrkäfers. Der Zeit entrinnt Montale nur, wenn er vom Balkon seines Hauses auf das unendliche Meer blickt: dort löst sich die Geschichte auf in blaue Unendlichkeit. Gegenwart und Zukunft hingegen unterliegen der Mafia. Ihre Killer sind hinter der Enthüllungsjournalistin Babette her, ihre Killer bringen einen geliebten Menschen nach dem anderen um, weil nur so Montale dazu gezwungen werden kann, Babettes Versteck zu verraten. Und die Mafia ist es auch, die im Verein mit den Global Players aus dem Norden das alte Marseille zerstört. Dagegen setzen Izzo/ Montale ihre verzweifelte Liebe für das südliche Leben: Wärme, Meer, Zärtlichkeit, Wein. Ein Märchen aus uralten Zeiten ist das gewiss, Sjöwall/ Wahlöö auf mediterran, aber zauberhaft zu lesen. Gerade 54 Jahre alt, ist Izzo im Frühjahr 2000 gestorben, ein Jahr danach erhielt er posthum den Deutschen Krimipreis als bester internationaler Autor.

Unredigiertes Manuskript, erschienen inDIE ZEIT Nr. 29/01