Tobias Gohlis über Thomas Kastura: Die letzte Lüge




Wie weit ein Paps so geht

Nichts ist schwerer

... als einen guten Krimi zu schreiben

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Thomas Kastura: Die letzte Lüge


 

 

 

Wenn der Vater mit der Tochter...

Merkwürdig, unter welch bizarren Umständen man in letzter Zeit auf Pisa stößt. Jedenfalls irgendwann nach dem Elften September und vor Pisa Zwei sind auch Viktor (Mitte Dreißig, Fotograf, voll durchgeknallter Yuppie, Ex-Junkie) und Phil (eigentlich: Philomena, sechzehn, Hochbegabtenprogramm) in der mittelitalienischen Stadt mit dem schiefen Turm gelandet, stilvoll in einem Miet-Jaguar. Die beiden Reisenden verbindet so gut wie nichts außer der Vergangenheit: Er ist ihr Vater. Ein Vater, der gleich nach der Geburt des Töchterchens das Weite suchte, und Jahre später, als die Mutter gestorben war, mit der Halbwüchsigen auch nur kurzfristig auskam, bevor sie ins Internat floh. So ein Vater ist aus schlechtem Gewissen beinahe zu allem bereit und langmütig bis zum Gehtnichtmehr. Sogar, wenn ihm die Tochter den Jaguar voll kotzt.

Wie weit ein Paps so geht
Zwar kriegt er einen Wutanfall und setzt sie an der nächsten Tankstelle an die Luft. Doch kaum hat er die Raststätte hinter sich, beschleunigt er auf 230, damit sie nicht so lange allein im Regen stehen muss. Viktor und Phil sind eigentlich zu Dritt: unter der Heckklappe des Leihwagens steckt Musti. Zuvor lag Musti in Phils Wohnung, mit einem Messer im Bauch, und selbst die superschlaue Phil hatte nicht weiter gewusst. Bis ihr Paps einfiel, die letzte Rettungsnummer. Der wollte eigentlich alles andere als nach Pisa, aber was bleibt einem Vater schon übrig, wenn die Tochter einen erstochenen Sohn aus bester türkischer Mafiafamilie in der Küche liegen hat und nicht weiter weiß? Paps zieht also das Messer aus dem Türken, schneidet ihn in kleine Stücke, verlädt das Ganze in den Jaguar, verbrennt es irgendwo zwischen Deutschland und Italien und glaubt, jetzt könnte die glückliche Vater-Tochter-Ära beginnen.

Nichts ist schwerer...
Als populäres Genre stellt der Kriminalroman eine Verlockung dar. Wer als Journalist, Staatsanwalt oder Politiker (Horst Ehmke ist hierfür das bekannteste Beispiel) nicht mehr recht was zu sagen hat, wem als Romancier der Stoff ausgeht, der vergreift sich schon mal am Krimi. Selten spaßeshalber. Uff, denkt auch der eine oder andere Neuling, zum Glück ist da ja schon eine Menge vorgegeben: Handlungsstruktur, Moral, Figurenverteilung, das Teil schreibt sich eigentlich von selbst. Das Produkt sind Krimis, die so eng mit Literatur verwandt sind wie Seifenkisten mit Mittelklassewagen. Die selbstgebastelten Vehikel schleppen zentnerweise Journalisten-, Juristen- oder Politikerleid; gänzlich ungelenk wirken sie als Transporter unvergorener Debütantengeschichten. Als da wären: Kind erinnert sich an Kindheit, Vater sucht Tochter, usw.
Die meisten Krimischreiber glauben es nicht, aber auch im Unterhaltungsgenre kommt es auf das Wie an. Sehr sogar. So sehr, dass leider nicht allzu viele Kriminalromane das halten, was sie versprechen: eine Geschichte zu erzählen, die nur als Kriminalgeschichte stimmig ist und anders nicht erzählt werden kann. Insofern ist es ein bemerkenswerter Glücksfall, wenn ein Romanerstling genau dies erfüllt.

... als einen guten Krimi zu schreiben
Denn das ist Thomas Kasturas Die letzte Lüge: Die Kriminalgeschichte eines Vaters mit schlechtem Gewissen, der alles tut, um die Liebe seiner Tochter zu gewinnen. Dazu schlägt er sich mit Italienern, lässt sich von Türken foltern, bezieht Quartier in einer Absteige weit unter seinem Niveau und erträgt sogar die Gegenwart des schwachsinnigen Machos, in den sie sich verliebt hat. Und das alles in Pisa.
Die Ängste von Eltern um ihre Kinder haben immer etwas Paranoides. Um sie schützen, erziehen und manchmal auch nur ertragen zu können, scheint es bedingte Reflexe zu geben, die Eltern zwingen, für ihre Kinder einzutreten, koste es was es wolle. Nur nicht das Herz zerreißen. Die Angst vor dem ersten Liebhaber, die Angst, die Tochter werde sich aus Unerfahrenheit schaden, das reflexhafte Beschützenwollen – wie übertrieben ist das alles. Und wie kindisch. Beinahe altklug wirkt die Raffinesse, mit der Kastura diese bedingten Elternreflexe in einer Umgebung toben lässt, die sie ins Komische und Groteske verzerrt, ohne jemals ihren Ursprung in der Liebe zu leugnen.
Aber vielleicht kommen Sie auf ganz andere Gedanken, wenn Sie selber Die letzte Lüge lesen. Denn ich habe nur meine Krimi-Kolumnistenpflicht getan: über eine mitreißende Story zu schreiben, ohne auch nur ein Fitzelchen zu verraten.

Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 8/ 2003