Tobias Gohlis über Alfred Komareks Romane um Inspektor Simon Polt



Der 1.Polt


Der 2.Polt


Der 3.Polt


Der 4.Polt

Einzigartig: Die Kellergassen

Himmel- und Höllenbauer

Tödliches Gärgas

Poltschnitzel

Halb Gendarm, halb Mensch

Kapellen der Liebe

 

 

Eine Mordsgegend

In Presshäusern und Gärkellern des niederösterreichischen Weinviertels ermittelt Inspektor Polt

Kein Steilhang weit und breit. Sie leben ungefährlich, die Weinbauern im niederösterreichischen Weinviertel. Im größten und doch am wenigsten bekannten Weinbaugebiet des Landes ist alles sanft geschwungen, Hügelland, weich und wellig, Hebungen und Senkungen leichthin ineinander verwoben. Selbst den Wein entdeckt man nicht gleich: Getreide, Kartoffeln und Kürbisse wachsen auf den Feldern, man muss weit hineinfahren bis fast an die Grenze zu Tschechien, um auf die lang gezogene Rebreihen mit Grünem Veltliner, Zweigelt, Cabernet Sauvignon und Blauem Portugieser zu stoßen.
In den Straßendörfern ist auf den Hauptstraßen selten ein Mensch zu sehen. Die Geheimnisse und die Schönheit dieses alten Weinlands erschließen sich nicht auf den ersten Blick. Wer schon ein wenig Bescheid weiß, folgt den Hinweisschildern zur Kellertrift oder Kellergasse und entdeckt nach kurzer Fahrt das Dorf hinter dem Dorf, wo es im labyrinthischen Untergrund der Presshäuser gärt - das Dorf ohne Rauchfang, wie es heißt. Hier wohnt der Wein. Und hier ermittelt Gendarmerieinspektor Simon Polt, ein behäbig-nachdenklicher Freund der örtlichen Weinsorten und der Gerechtigkeit, die Romanfigur des Schriftstellers Alfred Komarek.
Eine Mordsgegend. Im ersten Satz des ersten Polt-Romans liegt schon der erste Tote im Keller eines Presshauses, hingestreckt von Kohlendioxid, von Gärgas. Zwei Kellernachbarn stehen stumm und hölzern neben ihm, und eine Dunstwinde bläst surrend durch einen dicken Schlauch die angesaugte Kellerluft ins Freie.

Einzigartig: Die Kellergassen
Die längste Kellergasse liegt in Hadres, im Pulkautal. Über anderthalb Kilometer ziehen sich Hunderte schlichter Lehmhäuser, weiß gestrichen und mit einfachem Holzdach, auf beiden Seiten eines alten Hohlwegs den leicht ansteigenden Hang hinauf. In der Mittagsstille erinnert die Kellergasse an Kreuzwege oder andere Straßen, die zu heiligen Stätten führen.
Ihre Existenz verdanken die bis zu 250 Jahre alten Presshäuser allerdings keiner rituellen, sondern der ganz praktischen Notwendigkeit kurzer Wege. Hier werden die Trauben aus den nahen Weingärten verarbeitet, und in den Kellern, die bis in dreißig Meter Tiefe unter der Oberfläche in den Lössboden hineingegraben sind, gelagert. Gastfreundschaft wird in der Kellergasse groß geschrieben. Mindestens ein Presshaus ist am Wochenende geöffnet. Vorbeikommenden wird die Tageszeit und der Standardgruß geboten: "Trink mer was?"
Wer zum ersten Mal kommt, fühlt sich trotz der freundlichen Aufnahme in eine fremde Welt versetzt. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es Kellergassen wie diese. Doch zum Glück nimmt uns Gendarmerieinspektor Polt in vier Kriminalromanen mit auf Fahndung, erst im Frühling, dann im Sommer, im Herbst und schließlich im bitterkalten Winter - wenn es Zeit ist, den Eiswein zu pressen.

Himmel- und Höllenbauer
Im Vorspann warnt Krimi-Autor Komarek seine Leser: Ortschaften und Menschen im Wiesbachtal stammen aus der Welt der Phantasie, und alles ist nur insofern wirklich, als es wirklich sein könnte. Einem Leser in Berlin oder Hamburg leuchtet das ein: So verschroben und winzerisch-eigentümlich kann nur Erfundenes sein. Doch vor Ort entdeckt man erstaunliche Entsprechungen zwischen der niederösterreichischen Wirklichkeit und den von Komarek beschriebenen Dörfern, Schauplätzen, Personen.
Erste Gleichungen sind schnell aufgestellt: Das Wiesbachtal entspricht dem Pulkautal, die kleine Stadt Burgheim mit Polts Gendarmerieposten ist Haugsdorf, und das Brunndorf der Romane ist ein Amalgam aus Untermarkersdorf, Hadres und Obritz.
Und schon lernt man einen Winzer kennen, der Anekdoten über den verstorbenen Gendarm Karl Polt aus Haugsdorf erzählt. Oder man ist zu Gast beim Himmelbauern, dessen Keller bis hin zum barocken Portal in der hintersten Höhlung exakt so ausschaut wie der des Höllenbauern. Da wird deutlich, dass Komareks Romane auf Forschungen von ethnografischer Gewissenhaftigkeit beruhen. Komarek lebt zwar in Wien, besitzt aber seit Mitte der siebziger Jahre einen eigenen Keller im Weinviertel. Außerdem besitzt er die Gabe, sich jedes Gespräch wortwörtlich merken zu können. Deshalb ist es ihm nicht schwer gefallen, die Geschichten seines zweiten Lebensraums bis in die Tonlagen hinein wiederzugeben. Auch die Tatorte hat er nicht er-, sondern gefunden, selbst wenn sie noch so bizarr scheinen.

Tödliches Gärgas
In Polt muss weinen leitet der Mörder das tödliche Gärgas durch einen Tunnel von zehn Zentimetern und dreißig Metern Länge in den Keller des Opfers. Wer dies für eine Erfindung hält, die eher zu Edgar Wallace passt, sieht sich von der Wirklichkeit überrumpelt. Man muss nur mit Alfred Komarek in dessen eigenen Keller steigen: Da ist sie schon, die armdicke Tunnelverbindung hinüber zum Nachbarn. Vermutlich wurde sie tatsächlich von den Weltkriegsdeserteuren gegraben, die sich hier in einer Seitenhöhle versteckt hielten. Auch bedroht das Gärgas Kohlendioxid immer noch den traditionellen Winzer, der seinen Wein unterirdisch gären lässt. Deshalb haben alle Keller Dunstlöcher, die Frischluft von der Erdoberfläche heranführen können. Nicht nur im Untermarkersdorfer Weinmuseum, sondern auch in manchem Betrieb ist noch eine Dunstwinde zu besichtigen, mit der das schwere Gas hinausgeblasen werden kann.
Wer mit Komarek durch das Pulkautal streift, kann nacherleben, aus welchen Wirklichkeitselementen die schriftstellerische Fantasie sich genährt hat. "Hier geben sich Polt und die Lehrerin den ersten Kuss", sagt er und deutet auf einen barocken Wegstein. Das Fahrrad auf der Hofmauer vom Kastanienwirt, der der Kirchenwirt ist, kennen die Leser als Böse-Buben-Streich aus Blumen für Polt. Der Cabernet-Sauvignon, in dem sich Tollkirschengift befand (Himmel, Polt und Hölle), wird tatsächlich in dieser Rotweinecke des Weinviertels angebaut. Und so eine große Weinpresse mit dem mehr als 14 Meter langen, Hengst genannten Pressbaum, aus der in Polterabend beim Eisweinpressen das Blut des Lutzer Ferdl dringt, findet man überall in der Gegend als Symbol alter Weinbautradition.

Poltschnitzel
Die Verfilmungen der Polt-Romane haben ein Übriges zur Ununterscheidbarkeit von Realität und Fiktion beigetragen. So findet sich in Wullersdorf auf dem Platz vor der prächtigen Barockkirche ein Dorfladen, über dessen Tür ein Schild "Kaufhaus Habesam" verkündet. Ist das etwa das Verkaufsgewölbe der umtriebigen Witwe Aloisia Habesam, überaus gut sortiert in Gemischtwaren und Gerüchten? Wer den Laden betritt, rechnet schon mit der wunderbar knurrig von Monika Bleibtreu gespielten Krauterin. Doch dann ist es ein hagerer Mann mit spitzer Nase und verschmitztem Augenausdruck, der im Gespräch bedauert, leider gäbe es keine Originale mehr. Er hat nach Drehschluss einfach die Requisite vor seinem Laden hängen lassen, nachdem er als Kulisse ausgedient hatte. Sein Warenangebot und die Einrichtung aus den fünfziger Jahren hatte der Krämer sowieso nicht verändern müssen.
Beim Stiegenwirt gleich nebenan gibt es "Poltschnitzel". Das sind schmackhafte Putenschnitzel, die in ihrer Panade aus Graumohn stecken wie ein Gendarm in seiner farblich gleichen Uniform. Diese augenzwinkernde Identifikation mit Komareks Kunstfigur hat einen ernsten Hintergrund. Mit der Öffnung der tschechischen Grenze ist das bislang eher im Verborgenen dämmernde Weinviertel, das selbst den nur knapp eine Autostunde entfernt lebenden Wienern kaum bekannt war, in einen Sog der Veränderung geraten, der die althergebrachte Lebensform zu zerstören droht.
Komarek hält diese Momente der Veränderung fest. Motorradbanden, Diskotheken, Drogen- und Mädchenhandel über die tschechische Grenze sind die Signale der neuen Zeit. Bereits im ersten Roman Polt muss weinen ist die Krise der alten Weinbaukultur Thema: Ein Immobilienhai droht eine beinahe schon ausgestorbene Kellergasse in eine Ferienhaussiedlung zu verwandeln. Und im letzten Roman Polterabend schmeißt Polt dem neumodischen Vorgesetzten die ungeliebte Uniform hin, als dieser ausgerechnet dem Heiligen Trinker Bruno Bartl einen Mord anhängen will, nur um ein Fahndungsergebnis vorweisen zu können.

Halb Gendarm, halb Mensch
Überhaupt ist der Polt einer, der nicht mehr in die Zeit passt. Der Gendarm ist bis in die schwere Statur getränkt von ländlicher Bedächtigkeit. Er ist (auch des einen oder andern Schlucks wegen) lieber mit dem Fahrrad als mit dem rasanten Dienstwagen unterwegs. Und die Gerechtigkeit, die er sucht, ist nicht an Paragrafen, sondern an der Lebenswirklichkeit eines armen, von der Hauptstadt ignorierten und isolierten Grenzlandes orientiert, in dem die Menschen seit jeher auf gegenseitige Hilfe angewiesen sind. Nicht die Festnahme des Täters ist Polts oberstes Ziel. Er möchte die Umstände so weit klären, dass alle unbeschwert und frei von jedem Verdacht weiterleben können - und das bedeutet oft, dass er die Täter laufen lässt. So akzeptiert er auch mal, dass ein Sadist und Quälgeist, Betrüger und Frauenschänder in einer Art gemeinschaftlicher Notwehr umgebracht wird, weil er wie Rattengift auf die dörfliche Lebensgemeinschaft wirkte. Wie Maigret geht es Polt darum, die Motive zu verstehen, die zur Tat geführt haben.
So ist Polt einerseits ein durchaus ernsthafter und fantasiebegabter Ermittler, der sich auch in abgründige Charaktere hineinversetzen kann wie etwa den eines alten Rassisten, der seinen behinderten Sohn als unwertes Leben erschlägt. Andererseits spielt er dank seines Vermögens, sich in die Seele von Außenseitern wie dem sanften Säufer Bartl liebevoll einzufühlen, mehr als einmal die Rolle eines Freundes, der beschwichtigt, tröstet, verzeiht. Er ist ein Mensch, der ab und zu einem Gendarmen ähnlich schaut, wenn es sein muss. Oder ein Gendarm, der ein Mensch ist, wenn's grad gut passt.
Komarek dient er als Seismograf, der in seinen Ermittlungen die Verwerfungen seines Lebensraums zugleich aufdeckt und aufzeichnet. Auch wenn die Polt-Romane Verbrechen beschreiben, die aus Spannungsgründen die Alltagsdelikte im Pulkautal übersteigen, sind sie so sehr aus dem Erfahrungsraum des Weinviertels heraus geschrieben, dass man getrost sagen kann: Hier kommt auf eine kunstvolle, realistische und authentische Art das Land selbst zur Sprache. Deshalb erkennen nicht nur die Gäste in den Romanen Komareks die verdichtete Wirklichkeit einer alten, bedrohten, aber auch lebenskräftigen Kulturlandschaft wieder, sondern auch die Einheimischen sich selbst.
So sehr sind die Romane in der Landschaft verwurzelt, dass Komarek mehrmals Menschen begegnet ist, die er glaubte, erfunden zu haben. So stellte sich eines Abends ein riesiger Kerl in Motorradkluft neben den zart gebauten Schriftsteller an den Tresen beim Kastanienwirt, schlug ihm auf die Schulter und sprach: "Der Bernie, der bin i!" So hatte Komarek einen Schläger genannt, der Polt in einer Disko mit einem Kniestoß außer Gefecht gesetzt hatte.

Kapellen der Liebe
Eine so große Liebe, wie sie Komarek für dieses stille Weinland verspürt, braucht Kapellen, in der sie zelebriert wird. Die Polt-Romane sind durchzogen von geradezu zärtlichen Beschreibungen kleiner und großer, verfallener und traditionsreicher Keller. Topografisch ist diese unterirdische Zweitwelt ausgedehnter als die Dörfer oben, ihre Grenzen sind nicht einmal im Grundbuch festgelegt. Im Roman nimmt sie mythische Züge an, wird zur Männerwelt, die tiefer, größer und ehrlicher ist als die da oben, in der nicht gelogen wird und ein Wort noch etwas gilt. Hier ist es trotz einer konstanten Temperatur zwischen 12 und 15 Grad seelenwarm und still, und jeder kann nach seiner Fasson selig werden.
Als Kontrast zur Zeitkritik durchzieht ein Hohes Lied auf die freundlich erhellte Welt im Bauch der Erde die Romane. Schweigend tranken die Männer. Allmählich wurden die Gedanken wieder weich und rund, die Zeit trat über die Ufer, und ein feierliches, wunschloses Behagen lag über allem. Fast beschwörend bewahren sie eine Erfahrung von unterirdischer Transzendenz: Polt spürte, wie die Welt um ihn ihre Schwere verlor, wie die Kellergewölbe sich öffneten und nur noch vage Strukturen zwischen Licht und Dunkelheit zeichneten. Hier unten sind die Toten nicht weit weg, dachte er.
Das Beglückende an Komareks Landschaftsverdichtung ist, dass sie den Menschen des Weinviertels das zurückgeben kann, was sie aus ihrer Welt entnommen hat: die Hoffnung auf eine Zukunft, die auf der Vergangenheit ruht. Die Winzer und Winzerfrauen, die in der Wirklichkeit des Pulkautals einen zähen Kampf um die Durchsetzung ihrer (nebenei: immer besser werdenden) Weine, um den Erhalt ihres alten Kulturhandwerks und seine Erneuerung führen, finden in den Krimis um Simon Polt Landmarken ihrer Träume, Bilder einer Welt, in der sie leben möchten und die doch schon vergangen ist. Wer einen guten Platz im Leben sucht - im Keller wird er ihn finden. Das ist Polts Credo. Und hier, in einem der wirklichen Keller in Hadres oder Untermarkersdorf, Alberndorf oder Obritz, treffen sich an glücklichen Abendstunden Literatur und Wirklichkeit beim "Poltwein". Das ist ein Grüner Veltliner vom Himmelbauer, gekostet von Simon Polt: Der frische Geschmack von Trauben füllte den Mund, berührte leichthin den Gaumen, und kehrte für einen kleinen, verführerischen Abschied wieder. Polt seufzte, streckte behaglich die Beine unter dem Tisch aus, senkte seine Nase und genoss den Duft, der ihn an sonnenheißes Weinlaub erinnerte, an warm leuchtende Herbsttage in der Kellergasse. Das Glas war angenehm kühl in seiner Hand, im strohgelb leuchtenden Wein tanzten hellgrüne Lichter.

Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 40 (Wein-Spezial)