Tobias Gohlis: Kurzkritiken 2005

 


Felix Thijssen: Rosa
Aus d. Niederländischen v. Stefanie Schäfer; Grafit, Dortmund 2005, 346 S., 9,95 EUR


Peter O'Donnell: Modesty Blaise - Die Klaue des Drachen. Aus d. Englischen v. Ilse Winger


Reginald Hill: Der Wald des Vergessens. Aus dem Englischen von Xenia Osthelder


Reginald Hill: Die Launen des Todes. Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet

Thomas King: Dreadful Water kreuzt auf. Aus d. Englischen v. M. Blaich u. K. Kamberger


Valerio Varesi: Der Nebelfluss. Aus d. Italienischen v. Karin Rother

 

 

 

Herzsuche in Amsterdam (Felix Thijssen)

Es ist ein seltsamer Auftrag, den Max Winter, seit kurzem Vater einer kleinen Tochter, da im schalldicht isolierten Haus an den Amsterdamer Grachten von einer reichen Witwe annimmt. Der Privatdetektiv soll das Herz ihrer verstorbenen Tochter suchen, die vor drei Jahren bei einem Autounfall umkam. Nichts ist unmöglich für Winter und seine Partnerin, die alle Computersysteme hackende CyberNel. Nur allzu bald stellt sich heraus, dass die Seele der jung dahingeschiedenen sittsamen Tochter in der Brust eines ziemlich üblen Typen sitzt.
Die Suche nach dem Herzen der Tochter - das ist der rote Faden, um den Altmeister Felix Thijssen eine Geschichte spinnt, die von den Sehnsüchten ganz anders verlorener Seelen handelt. Leicht und gegen alle Erwartungen spinnt er sie. Da ist der abgehalfterte Journalist, der die Hausaufgabe seiner Tochter für einen Vortrag über die Zukunft Europas benutzt. Da ist der Kleinkriminelle Victor, gehetzt von der Sehnsucht, ein paar Jahre lang das implantierte Herz im Luxus schlagen zu hören. Da ist Betty, die Gelegenheitsnutte, die sich zwischen Bruder, Exmann und Freiern einen Rest eigener Zukunft sichern will. Da ist der pensionierte Postbeamte, der seinem Vater ein Denkmal setzen und eine politische Zeitschrift von Einfluß gründen möchte. Lauter Kleine-Leute-Träume in einem kleinen Land. Fast zu laut wirkt da der Mord, in dem die schäbigen Glücksträume eskalieren. Kopfunter aufgehängt, bedeckt mit Verletzungen aus stundenlangen Folterungen, wird der Rentner aufgefunden, ausgerechnet in Otterlo, wohin Niederländer und Touristen pilgern, um im Kröller-Müller-Museum Schönheit, Wahnsinn und Verzweiflung der Kunst van Goghs zu bestaunen. Felix Thijssen skizziert als erzählender Maler in Rosa den Alltag der Armut und die landläufige Verzweiflung in scharf umrissenen Genreszenen. So entsteht ein fein zu lesendes Stück niederländischer Milieus, das von ferne an Simenon erinnert. Doch dem fehlte Thijssens heitere Grundstimmung. Max Winter ist schließlich zum ersten Mal Vater geworden.

Modestys Comeback (Peter O'Donnell)

Modesty Blaise ist wieder da. Sie erinnern sich: An die tänzerische Kämpferin, die am besten ist, wenn sie unbekleidet in die tödliche Arena steigt, die schwarzen Haare zu einem Knoten geknüpft, die am liebsten mit einem Kongo kämpft, einer Faustschlagwaffe, die einem doppelten Stopfei ähnelt. Für die Entwicklung meiner Jungmännerträume besaß Modesty Blaise eine quasi polare Bedeutung. Jetzt erfuhr ich aus einer Rezension der Kollegin (und bündnisgrünen Ex-Gesundheitsministerin) Andrea Fischer, dass Modesty auch der weiblichen Rollenfindung dienen kann. In ihrer Rezension zu Peter O'Donnells Modesty Blaise - Die Klaue des Drachens attestierte Fischer dem stahlzarten Mordsgeschöpf hohe weibliche Emanzipationsqualität: "O'Donnell hat mit seiner sexy intelligenten Heldin schon vor vierzig Jahren eine Frau geschaffen, die dem heutigen postfeministischen Ideal entspricht.. Da geht ganz entspannt zusammen, dass Modesty nach einem beherzten Kampf mit brutalen Mördern ihrem Liebhaber lässig Essen macht. Vielleicht ist diese Lässigkeit auch ein Grund, warum Modesty nicht zu einer Heroine der Frauenbewegung wurde - sie zeigte einfach zu selbstverständlich, dass zu einer starken Frau auch ihre Weiblichkeit gehört. Modesty Blaise ist eine intelligente Kämpferin - und spielt kühl damit, dass Männer beim Anblick einer schönen Frau ihren Verstand verlieren." Wahr und groß gesprochen.
Doch Modesty-Romane sind noch mehr. Sie sind Lobgesänge auf die einzig mögliche Freundschaftsform zwischen den Geschlechtern: die gleichberechtigte Dienerschaft des Mannes. Mit jedem hinterwitzigen Plot bestätigen sie die Lebenswahrheit, dass die Guten je prächtiger siegen, desto abartiger die Bösen sind. Von 1963 bis 2001 kämpfte Modesty als Comic-Heldin in englischen Blättern und bis zu 42 Ländern, elf Romane entstanden aus dem Stoff, jetzt, zu Peter O'Donnells 85. Geburtstag, werden sie wieder aufgelegt. Im ersten Band der neuen Edition duelliert sich Modesty in der Tasman-See mit einem wahnsinnigen Priester, gerettet von ihrem genialen Orientierungssinn und Freund Garvins Fähigkeiten, aus nichts einen Gleitsegler zu fabrizieren. Kult, purer Kult.

Morsche Knochen (Reginald Hill)
Peter Pascoe, Chiefinspector von Superintendent Dalziels Gnaden, leidet, besonders in Gegenwart seiner geradezu unantastbar tadellosen Ehefrau, an einem sehr merkwürdigen und ihm auch nicht ganz verständlichen Minderwertigkeitskomplex. Während sie entschlossen, strahlend, ohne Zweifel an sich und ihren Fähigkeiten den Aufbau der kleinen Familie vorantreibt, empfindet er eine unbestimmbare Schwäche, ein Kränkeln seiner Väterlichkeit. Ihm kommt es vor, als sei in seiner Familie, die weit versprengt ist und kaum Kontakt untereinander hält, und damit auch in ihm der Wurm drin. "Familien sind eine ganz große Scheiße", denkt er bei der Beerdigung seiner Großmutter Ada, der einzigen Angehörigen, die er einigermaßen ausstehen konnte.
Der Wurm, so könnte man einen Hauptstrang von Reginald Hills Der Wald des Vergessens zusammenfassen, steckt nicht nur in Pascoes Familie, sondern im britischen Militarismus und Klassensystem. Drei Generationen, bis in die Tage der Ersten-Welt-Kriegs-Massaker bei Ypern und noch weiter zurück reichen die Dokumente, die die Verstorbene hinterlassen hat. Darunter das Foto eines anderen Peter Pascoe, der 1917 wegen Feigheit vor dem Feind standrechtlich erschossen wurde.
Während der Chiefinspector sich auf den Spuren seiner familiären Vergangenheit verliert - gequält vom Makel der Feigheit - buddeln seine Kollegen in einem sumpfigen Kraterloch. Darin wurden Gebeine gefunden, mit einem Loch im Totenschädel. Sehr zum Bedauern des Superintendents ist das Loch jünger als 60 Jahre und somit ein noch zu ermittelnder Fall. Wie Hill die erst ganz zum Schluss als zwingend erkennbare Farce dieser knochenharten Ermittlungen in der Gegenwart Mid-Yorkshires mit den zermürbend tragischen Ahnenforschungen Pascoes zusammenbringt - das ist schon sehr souverän ausgeführt.
In die noch weiter zurückliegende Ära Queen Victorias reicht der zufällig zeitgleich erschienene - und dank der Qualität Hills - weniger zufällig ebenfalls als einer der zehn besten Krimis des Monats Mai gerade von der KrimiWelt-Bestenliste ausgezeichnete Roman Die Launen des Todes . Zwei Hills in einem Sommer - das ist schon die halbe Urlaubslektüre.

The native detective (Thomas King)
Wo ließe sich das große Spiel mit dem schönen Schein und den dicken Scheinen besser spielen als in der Immobilien- und in der Computerbranche. In beiden Geschäftszweigen winkt bei langfristiger Planung großer Gewinn, weshalb sie so häufig den Nährboden für das literarische Verbrechen abgeben. Verschärft werden Spannung, Risiko und Gewinnaussichten, wenn Immobilien- und Computergeschäfte zusammenkommen, zum Beispiel beim Bau eines Luxusresorts mit Spielkasino. Deshalb ist der Plan des indianischen Stammesrats, in der Nähe von Chinook/ Montana das Buffalo Mountain Resort zu errichten, von Anfang an umkämpft. Der Sohn der Stammeschefin führt die fundamentalistische Opposition in den eigenen Reihen an, der Konkurrenz außerhalb des Reservats ist das Projekt ein Dorn im Auge. Als im Muster-Apartment Cataract wenige Tage vor der Eröffnungsgala die Leiche des asiatischen Systemprogrammierers erschossen aufgefunden wird, sind die Nerven zum Zerreißen gespannt. Alle Spuren deuten auf den rebellischen Sohn Stanley als den Täter. Chefin Claire, hin- und hergerissen zwischen Mutterliebe und politischer Pflicht, ruft ihren Liebhaber, einen Ex-Polizisten und Landschaftsphotographen zu Hilfe: DreadfulWater kreuzt auf. Dieser Langschläfer, der selbst zu seiner eigenen exzentrischen Katze auf maximale Distanz bedacht ist, hat, wenn überhaupt, nur ein Ziel vor Augen: vielleicht einmal bessere Bergfotografien zu machen als Ansel Adams.
Der in Kanada hoch angesehene Autor Thomas King, selbst halber Indianer, hat in seinem ersten Kriminalroman mit Thumbs DreadfulWater nicht nur der Figur des Privatdetektivs wider Willen eine eigenwillige reizvolle Variante hinzugefügt. Das Bild, das er vom indianischen Alltag zeichnet, ist nicht mehr, wie bei Tony Hillerman, vom Konflikt zwischen Traditionalismus und zerstörerischer Moderne geprägt. Seine native people spielen lustvoll Cowboy und Indianer und nutzen die Vorurteile der White Anglo-Saxon Protestants geschickt zu ihrer Tarnung. Schließlich geht es um sehr viel Geld.

Späte Rache am Po (Valerio Varesi)
Man sieht sie vor sich, in alte Wolle und alte Erfahrungen gewickelte uralte Knaben, wie sie wie jeden Tag im Clubraum ihres Circulo Nautico hocken und das Steigen des Wassers kommentieren. Wie lange muss es noch regnen, bis der Strom über die Deiche tritt, was ist da wieder los? Draußen steigt der Po wie jedes Jahr im Herbst, und plötzlich treibt der Kahn des alten Tonna in der Dunkelheit vorbei, anscheinend führerlos, eine Gefahr für Brücken und Wehre weiter flussabwärts.
In der Stadt, in Parma, in einer anderen, fernen Welt ist ein Mann aus dem Fenster des Krankenhauses gestürzt. Gestürzt worden, wie Commissario Soneri nur allzu bald herausfindet. (Wir Leser haben das natürlich sofort geahnt.) Zwei Fälle, die nur allzu bald durch einen gemeinsamen Nachnamen verbunden werden: der Mann, der aus dem Fenster fiel, und der Mann, der seinen Kahn hätte führen sollen, waren Brüder.
Valerio Varesis Der Nebelfluss lebt von seiner Atmosphäre: von der abgeschiedenen, vom Hochwasser bedrohten Landschaft hinter den Deichen, von den kauzigen Hinterländlern, die der Obrigkeit, und sei sie so verständnisvoll wie der Commissario, niemals auch nur das Geringste über ihre Angelegenheiten preisgeben. Und keine Angelegenheit ist so intim wie alte Feindschaft. In diesem Fall geht sie zurück bis in die Zeit, als sich in den Fischerdörfern am Po Faschisten und Partisanen bekriegten.
Mit seiner Romanserie um Commissario de Luca hat Carlo Lucarelli 1990 in Italien eine Welle historischer Kriminalromane ausgelöst, die sich mit Faschismus und Nachkriegszeit beschäftigen. Das Besondere an Varesis Erstling, der recht kurz nach seinem Erscheinen in Italien bereits auf Deutsch vorliegt, ist die Perspektive: Die Kämpfe von damals sind nicht vergangen, sie werden noch heute von unerbittlichen Greisen weitergeführt. Zum Schluss hat Commissario Soneri nur noch eine Frage an den geständigen Täter: "Warum nach fünfzig Jahren?" Der antwortet: "Weil ich vorher noch leben wollte."

Veröffentlicht in der Sommerbeilage 2005 DIE ZEIT