Tobias Gohlis über über Shulamit Lapid: Die Geliebte auf dem Berg




Besitz und Ehre

Riesenschlamassel

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Shulamit Lapid: Die Geliebte auf dem Berg
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler

 

 

 

Familienkrieg am Rand des Negev

Lisi Badichi ist Reporterin. Zwar arbeitet sie nur für die Regionalausgabe, die Zeit im Süden, und muss jedes Mal, wenn sie ein Paar Schuhe kaufen will, einige Artikel in der überregionalen Zeit absetzen, aber als Rechercheurin ist sie unschlagbar. Ihr bester Trick besteht darin, dümmer auszusehen, als sie ist. Dank ihrer körperlichen Vorzüge fällt ihr das nicht schwer: Lisi ist etwas ungeschlacht gebaut und ihre Füße sind so groß, dass sie jeden Beobachter von Lisis Gesicht ablenken. Wenn sie dann noch ihre "schweren Augenlider herabsinken" lässt und eine gelangweilte Miene macht, kriegt sie fast alles heraus, was in Be'er Scheva vor und hinter den Kulissen passiert.
Be'er Scheva liegt nördlich der Negev-Wüste. Von der Kreisstadt sind es nach Osten und Westen je fünfzig Kilometer Luftlinie nach Jordanien und zum Mittelmeer, je etwa zweihundert Kilometer sind die nördliche und südliche Landesgrenze entfernt: Shulamit Lapid hat für ihre Lisi-Badichi-Romane einen Tatort gewählt, der ziemlich exakt in der Mitte Israels und seiner zahlreichen ungelösten Konflikte liegt.

Besitz und Ehre
In diesem, dem achten, Fall Die Geliebte auf dem Berg dreht sich alles um zwei Themen, wie sie im Nahen Osten größer nicht sein könnten: um den Besitz an Boden und die Ehre der Familie. Oder darum, was der jeweilige dafür hält. Denn nichts ist schwerer zu bewahren als Besitz und Ehre.
Wie Haydn seine Symphonie beginnt Lapid ihre verzwickte Geschichte um Treue, Rache und Verrat mit einem Paukenschlag. 1969, als Lisi, die Ermittlerin, noch ganz klein ist, lässt die Familie Berger in New York sich nichts gefallen. Mike, der jüngste Sohn, Mitglied einer Popband, ist an einer Überdosis Rauschgift gestorben. Vater, Mutter, Bruder und Schwester üben gemeinschaftlich Selbstjustiz: In einem perfekten Mord richten die aus Europa entkommenen Juden, die sich nie wieder etwas gefallen lassen werden, den Bandleader und Dealer ihres Jungen hin. Doch der Preis der Rache ist der Zerfall der Familie.
Simon, der ältere Bruder, verschwindet nach Israel, in das Land, das aus New Yorker Sicht "wie eine Art Fremdenlegion für junge Juden war, die vom rechten Weg abgekommen oder einfach dumm waren". Dreißig Jahre später - er heißt inzwischen Moschik Bamberger und ist Professor für Orientalistik, wie der Leser bald errät - klingelt bei ihm das Telefon. Seine ehemalige Studentin Lisi ist am Apparat. Der Bauunternehmer, der jetzt für das Bürgermeisteramt in Be'er Scheva kandidiert, hat seinen Militärdienst an der Grenze zu Ägypten gemeinsam mit Moschik Bamberger abgedient.

Riesenschlamassel
Es dauert nur ein par Stunden, und aus der neugiergeleiteten Routinerecherche über die Vergangenheit zweier wohlsituierter Herren hat sich ein Riesenschlamassel entwickelt. Gutmütig, wie sie nun mal ist, hat Lisi Dina, die 17-jährige Tochter Bambergers und ihren Lover, den Schnulzensänger Effy, im Wagen mitgenommen, nur um in einem Familienstreit zu landen, der in der Vergewaltigung und Ermordung Dinas eskaliert. Lisi kommt knapp mit heiler Haut davon, und jetzt will sie die ganze Story. Wie meist bei Lapid führt Lisis Recherche tief zurück in die Vergangenheit - in die Zeit vor der Gründung Israels, in eine geheime Mesalliance zwischen einem Juden und seiner Beduinen-Geliebten - und zugleich in die ganz normalen Verbrechen der Gegenwart: Korruption, Bodenspekulation, Mord.
Shulamit Lapid ist mit Batya Gur die hierzulande bekannteste israelische Krimiautorin. Doch wo Gur eher klassische Detektivgeschichten in geschlossenen Milieus gebildeter Kreise erzählt, greift Lapid, auch als Dramatikerin erfolgreich, gleichermaßen spannend, witzig und komödiantisch tief ins soziale Leben. Lisis Existenz ist fortgesetzter struggle for life. Ständig ist sie von Entlassung und Suspendierung bedroht, weil ihr naiv-tollpatschiger Gerechtigkeitssinn mit dem CommonSense und besonders den Interessen der Anzeigenabteilung kollidiert. Bedenkenlos setzt sie sich über Tabus hinweg: Sie holt und findet Hilfe bei Beduinen, während doch niemand diesen Leuten traut. Und so deckt sie, behindert und sekundiert vom brüllenden und vom sanften Schwager bei der Polizei, schwer verliebt und trotziger Single zugleich, immer am Rande des Nervenzusammenbruchs die Ursachen und die Täter in diesem Fall auf, einem Familienkrieg von shakespearescher Dynamik. Lapids Romane sind ein Glücksfall: Unterhaltend erzählen sie auf hohem literarischen Niveau illusionslos und ironisch von den Verwerfungen der israelischen Gegenwart.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 31/ 2002

Siehe auch: Tobias Gohlis - Vorwort zu "Die Geliebte auf dem Berg"