Tobias Gohlis über den Radio Tatort

 


Kulturpolitisch ein Wunder

Das Making of

Regionale Realitäten

Dramaturgische Holpereien

Entdeckungsreisen in die Gegenwart?

 

 

Mord/Das Wüten der Moderne im Ohr

Am 16. Januar startet der „Radio Tatort“. Die ARD schreibt Hörfunk- und vielleicht auch Krimigeschichte

„Dell-ill-ill-ill — Dell-ill-ill-ill“. Ein Telefon klingelt. Der Hörer wird abgehoben. Eine männliche Stimme meldet sich geschäftsmäßig: „Suttner, LKA Düsseldorf.“ So wird Hörfunkgeschichte geschrieben: Neunmal wird am 16. Januar 2008 das Telefon klingeln, beinahe zeitgleich zwischen 20.05 und 22.00 Uhr und in allen Bundesländern. Neunmal wird sich Rudolf Kowalski als „Suttner, LKA Düsseldorf“ melden. Das hat es seit langem nicht mehr gegeben: Alle Landesrundfunkanstalten der ARD senden zur gleichen Zeit ein und dasselbe Hörspiel. Der Radio Tatort ist geboren. Natürlich ist es kein Zufall, sondern lässig präsentierte Absicht, dass der Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung sich als „Fischer, LKA Magdeburg“ vorstellt. Von ferne erinnert das an jene andere Rundfunksensation, als 1970 der allererste Fernseh-Tatort mit Hauptkommissar Trimmel im „Taxi nach Leipzig“ fuhr.

Kulturpolitisch ein Wunder
Doch was heute lebenspraktisch leicht ist, ein Telefonat zwischen Arbeitskollegen in Magdeburg und Düsseldorf, ist hörfunkpolitisch immer noch ein kleines Wunder. Nur während der Buchmessen haben es die Kulturprogramme der ARD-Sender bisher zu gemeinsam ausgestrahlten Sendungen wie der „ARD-Hörbuchnacht“ gebracht. Doch die dauerten ein paar Sendestunden. Was jetzt auf die Liebhaber von Krimi und Hörspiel zukommt, ist eine großangelegte Gemeinschaftsaktion. Denn auf das Hörspiel „Der Emir“ von Peter Meisenberg, das an diesem historischen 16. Januar ausgestrahlt wird, werden Monat um Monat weitere Kriminalhörspiele folgen, entwickelt, produziert und erstausgestrahlt jeweils von einer anderen ARD-Anstalt, gesendet jedoch beinahe zeitgleich mit wenigen Tagen Abstand von allen anderen (und selbstverständlich auch im Internet).

Das Making of
Man kann sich vorstellen, welche kriminelle Energie und idealistische Tatentschlossenheit am Werk gewesen sein muss, bis sich die notorisch auf ihre Autonomie bedachten Sendeanstalten dazu durchgerungen haben, das Gemeinschaftsprojekt „Radio Tatort“ zu stemmen. Die Qual der Prozeduren klingt noch in den bürokratisch verschachtelten Statements nach, die im Anschluss an die Erstsendung am 16. Januar in Thomas Wörtches Bericht über die Entstehung der neuen Reihe gehört werden können. In den Presseverlautbarungen ist mit mächtig viel Understatement und ganz leisem Stolz nur von Erfreulichem die Rede, von „kreativen Synergien“ und von der „populären Gattung Krimi“, mit der man neue Lust machen wolle auf „die fantastische Welt der Hörspiele, diese originäre Kunstform des Radios.“ Vom gewohnten Tatort im Fernsehen soll sich der „Radio Tatort“ nicht nur dadurch unterscheiden, dass es sich um „Film im Kopf“ handelt oder um „Film aus Worten und Geräuschen“. Zur eigenständigen Hörspiel-Welt gehören Schauspielerstimmen, die man bisher nicht als Tatortkommissare kennt. In jeder der neun Anstalten wurden eigene Ermittlerteams konzipiert. Die Redaktionen arbeiten unabhängig mit ihren lokalen Autoren, die eher von der Literatur oder vom Hörspiel herkommen als vom Fernsehen. Allen gemeinsam ist der Wille zur Unterscheidung, für das Verbindende steht, wie schon im Fernsehen und - als Marketingtrick - in der Kriminalliteratur, das alles umfassende Schlagwort des Regionalen.

Regionale Realitäten
Noch sind regionale Besonderheiten hauptsächlich aus Konzepten und Absichtserklärungen erkennbar, erst drei Hörspiele lagen vorab zur Rezension vor. So hat der Hessische Rundfunk zwar ein festes Ermittlerteam, will aber jeden Beitrag von einem anderen Autor schreiben lassen, während anderswo Stammautoren werken. In Berlin werden neue Gender-Verhältnisse ausprobiert: Der Chef ist Frau, eine alte 68erin, und kommandiert einen jungen Kommissar, der nicht nur schwul ist, sondern seine Freizeit auf der Bühne von Poetry-Slams verbringt. So viel Metropole leistet man sich in der Provinz nicht: in Stuttgart und Magdeburg sprechen die Chefs mit warmer väterlicher Stimme (Ueli Jäggi und Hilmar Eichhorn) und die subordinierten Aktivisten jung und weiblich (Nele Rosetz und Karoline Eichhorn). Allzu sehr soll sich die Besetzung nicht von den umgebenden Sozialverhältnissen unterscheiden. Spannender wird’s, wenn es um die Realität geht. Denn auf die, und zwar auf die regional gegebene, will man hinaus. Dafür spricht schon die Situierung der Protagonisten-Duos in den jeweiligen Landeskriminalämtern. Obwohl die nur bürokratisch, nicht real als natürliche Verbündete der Landessender gelten können: Normale Mordfälle, das täglich Brot des Krimis, behandeln Landeskriminalämter nur im Ausnahmefall. Elegant ist dieses Kompetenz-Problem im — übrigens als Pilot in jeder Hinsicht hervorragenden — ersten Stück „Der Emir“ gelöst. Kommissar Suttner und sein undercover eingesetzter deutsch-afghanischer Kollege Nadir Taraki ermitteln in einem Fall von Menschen- und Drogenhandel, beides Delikte in LKA-Zuständigkeit, wie auch das verdeckte Ermitteln selbst.

Dramaturgische Holpereien
Schwieriger ist es da für den LKAmann Kommissar Xaver Finkbeiner. Er wird in Christine Lehmanns „Himmelreich und Höllental“ zu einem Freundschaftsbesuch ins gleichnamige Schwarzwaldtal geladen, hört von einem Todesfall und erhält dramaturgisch ein wenig zu spät die offizielle Ermittlungsanforderung. Ähnlich umständlich finden auch die Magdeburger Ermittler ins überkomplexe Geschehen. Hier ist vermutlich ein kleiner Einbrecher beim Klettern tödlich vom Regenrohr eines Harzhotels gefallen — zunächst kein Fall fürs LKA. Aber in Magdeburg kennt das Hörspiel dramaturgische Wunder. Die nächtlichen Klimmzügen waren ursächlich durch neonazistische Umtriebe, Todesschüsse an der DDR-Grenze und Wirtschaftsverbrechen aus der Wendezeit motiviert. Schade, dass der Hörer, bis ins Mark gefroren von einem alles vorweg andeutenden schaurigen Drohanruf, über lange Strecken mehr als die Ermittler weiß. Aber das macht ja nichts: Schließlich soll ja im weiten Feld zwischen Hörspielkunst und krimineller, das heißt auch aufs breite Publikum zielender Unterhaltung experimentiert werden. Da können hoffentlich die Chancen eines ambitionierten Projekts genutzt werden. Vom ersten Hören her scheint jedenfalls das Düsseldorfer Konzept tragfähiger. Statt mehrere Handlungs- und Fallstränge zu verwickeln, entfaltet Peter Meisenberg seine Geschichte vom „Emir“, in dessen kriminelle Parallelwelt die deutsch-deutschen Bullen nicht eindringen können, in klassischer Thrillerdramaturgie: Wird es dem eigenmächtig operierenden deutsch-afghanischen Kommissar Taraki gelingen, lebend aus der Konfrontation mit dem libanesischen Gangsterboss herauszukommen? Die klug eingesetzte Musik der großartigen libanesischen Sängerin Fairuz öffnet der spannenden Handlung den Sehnsuchtsraum junger Migranten: „Bring mich zu diesen schönen Hügeln, bring mich zu dem Land, wo wir aufwuchsen.“

Entdeckungsreisen in die Gegenwart?
Hörfunkpolitisch ist der „Radio Tatort“ schon jetzt eine Sensation. Werden die gebotenen Chancen eines solchen Projekts richtig genutzt, stehen wir vor fantastischen akustischen Entdeckungsreisen in unsere Gegenwart. Wenn das Regionale nicht als gemütlich-folkloristische Dialektkunde (die natürlich auch ihren Spaß bringt) begriffen wird, sondern als Forschungsgebiet, in dem das verborgene, unheimliche und Angst machende Terrain des Verbrechens um uns (und in uns?) immer wieder erschlossen wird, ist der Radio Tatort das Lauschen wert. Hoffnung machen nicht nur die ersten drei Hörstücke, sondern auch die Aufbruchstimmung der Autoren. So verspricht Frank Göhre, eine der Schlüsselfiguren der jüngeren deutschen Kriminalliteratur, in seinem Hamburgstück „Schmutzige Wäsche„ noch unbekanntes Lokales und Globales über Markenpiraterie aufzudecken. Und Robert Hültner, den Meister des zeitgeschichtlichen Kriminalromans juckt es, in der fiktiven Kleinstadt „Bruck am Inn“ ganz reale Kriminalfälle zu gestalten. Hültner: „Der Kontrast zwischen äußerlicher Idylle der alten Kleinstadt, schön am Fluss im südöstlichen Oberbayern gelegen, und dem Wüten der Moderne — das ist es, was mich interessiert.“

Erstsendung: 16. Januar 2008 ab 20:00 Uhr in allen ARD-Radio-Sendern

Im Anschluss: Thomas Wörtche „Die Tat geschieht im Radio — ein Making of zum Start des ARD Radio Tatorts“.

 

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 3 vom 10.1.2008