Tobias Gohlis über Cathi Unsworth: Opfer




Unsworth war schon
mal da

Eine bittere und scharfe Tradition

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Cathi Unsworth:
Opfer (Original: Weirdo)

Aus dem Englischen
von Hannes Meyer

Cathi Unsworth:
Die Ahnunglsose (Original: The Not Knowing)

Aus dem Englischen
von Katarina Grän

 

 

Hexen in Ernemouth

In der Tradition des Britischen Noir: Cathi Unsworth kommt wieder

Das ostenglische Seebad Ernemouth in den achtziger Jahren ist der letzte Ort, an dem man aufwachsen möchte. Debbie, Samantha und Corinne – fünfzehn und auf der Suche nach Ichbild und Aufmerksamkeit – gehen in die gleiche Schule und möchten gerne aufgenommen werden in die Kunstakademie. Ihr sozialer Background ist verschieden. Samantha ist aus London zugezogen, Oma und Opa sind steinreich und herrschende Klasse. Debbie, Mittelstand, hat sich Corinne zur Freundin erwählt, obwohl die irgendwie prollig wirkt mit Patschuli-Wolke, engem Bleistiftrock und einer Mutter, von der man in Ernemouth sagt, sie sei verrufen. Zwanzig Jahre später dumpft Corinne als "Die böse Hexe des Ostens" wegen Mordes verurteilt in der forensischen Psychiatrie. Privatdetektiv Sean Ward, nach einer Schussverletzung bei Scotland Yard ausgeschieden, rollt den Mordfall wieder auf.

Unsworth war schon mal da
Soweit die Ausgangskonstellation des atmosphärisch dichten, ungemein spannend konstruierten vierten Krimis von Cathi Unsworth: Opfer. Unsworth ist deutschen Lesern mehr oder minder unbekannt, obwohl ihr Krimidebüt 2007 unter dem Titel Die Ahnungslose auf Deutsch erschienen ist. Darin griff sie auf Motive und Umgebung der Londoner Musik- und Journalistenszene zurück, in der sie mit neunzehn begonnen hatte, für Musikzeitschriften wie Sounds und Melody maker zu schreiben. Die Bands und Hits sowie die Modetrends jener Jahre setzt Unsworth in Opfer geschickt und unaufdringlich ein, um Kultur und Ausbruchssehnsucht der Jugendlichen von Ernemouth in Szene zu setzen.

Eine bittere und scharfe Tradition
Während der Privatdetektiv sich 2003 mit den sprichwörtlichen Mauern des Schweigens und einer trickreichen Vernebelungstaktik des ehemaligen Polizeichefs und lokalen Despoten Rivett herumschlägt, folgen wir atemlos den Ereignissen des Jahres 1983, als alles mit dem Einbruch der versnobten intriganten Göre Samantha in die vorher auch schon wenig beschauliche Kleinstadtwelt beginnt. Unsworth versteht es, uns Lesern diese Samantha mit ihren Lügen, ihrer Aggression und Unverschämtheit so verhasst zu machen, wie sie ihren Schulkameradinnen erschienen sein muss. Samantha, das Biest: Nachdem sie Omas verhätscheltes Hundchen zu Tode rasiert hat, lenkt sie den Quälerei-Verdacht auf Corinne. Die scheint prädestiniert für die Rolle des Opfers. Ihre Mutter schickt sie Anschaffen, nach einer Prügelei mit Samantha verliert sie den Friseurjob.
Cathi Unsworth wurde von Derek Raymond, dem großen Autor des Brit Noir, inspiriert, als sie dessen Meisterwerk I Was Dora Suarez vertonen half. Sie setzt diese bittere und scharfe Tradition fort. Allerdings ist bei Unsworth nicht die ganze Welt hoffnungslos gewaltsam und düster, sondern nur das althergebrachte Macho-Machtgefüge ihrer kleinen Stadt, hinter der unschwer das reale Great Yarmouth zu erkennen ist. Bei Unsworth gehen die Barbaren unter, und die Enkel kommen davon, beschädigt. Aber der Weg dahin ist eine höllisch spannende "long winding road".

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 15 vom 4.4.2013