Tobias Gohlis über Gary Victor: Schweinezeiten



Gary Victor:
Schweinezeiten

Aus dem Französischen von Peter Trier

 

 

 

 

 

Schweineinsel

15000 Gourde, umgerechnet 267 Euro, kostet ein Mädchen in Haiti. Marthe hat ihre fiebernde Tochter zum Voodoo-Heiler gebracht. Als sie das kranke Kind zurückhaben will, muss sie bezahlen. Nur für die Seele des Kindes, den Körper behält er sowieso: "'Sie wird sterben', warnte Marasa trocken. ‚Sie hat ihre Seele nicht mehr. Du kannst nur die Seele zurückkaufen.'" Die Mutter hat kein Geld. Der Heiler rückt das Kind nicht raus, sein Handlanger schwingt die Machete. Marthes Begleiter, Inspektor Dieuswalwe Azémar, schießt die Schwindler nieder. Gary Victor macht keine Umstände.
Schweinezeiten lautet sprechend der Titel seines Kriminalromans. 2009 ist er erschienen, ein Jahr vor dem verheerenden Erdbeben, das Haiti in eine Trümmerlandschaft verwandelte. Aber bereits vor der Naturkatastrophe war das Land ruiniert, durch US-Imperialismus, Diktatur und durch eine bourgeoise Clique. "Setoupamisme" nennt Gary Victor kreolisch ihre Maxime der Bereicherung nach dem Ausdruck "Se tout pa'm" – Jetzt bin ich mal dran. Gary Victor kennt sich aus. Er hat in diversen Regierungen als Beamter gearbeitet, war Generalsekretär des Senats der Republik und kurzzeitig Generaldirektor des Kultusministeriums. Er ist einer der meist gelesenen Autoren Haitis, und seine satirischen Radiokolumnen werden überall auf der Insel gehört.
"Wir sind alle Mutanten," legt er seinem Polizei-Inspektor Dieuswalwe Azémar in den Mund. "Wären wir Menschen, hätten wir dieses Leben nicht akzeptiert." Wie zum Beweis dieser karibischen Anthropologie verwandelt sich Wachtmeister Colin, einst treuer Schüler des Inspektors, nach kaum zwei Jahren Korruption in ein Schwein. Ihm wachsen Borsten und Rüssel. Zu nahe ist er medizinischen Manipulationen und Tierexperimenten gekommen, die amerikanische Konzerne in Haiti durchführen, weil dort die Vorschriften laxer und die Kosten geringer sind. Weit mehr als die Metamorphose seines Exschülers plagt den Inspektor die Sorge um seine Tochter Mireya. Um sie vor der "Beschmutzung" durch dieses Land zu bewahren, hat er Mireya der evangelikalen Kirche vom Blut der Apostel übereignet. In drei Tagen wird sie zur Adoption ins Ausland verschafft werden. Dieuswalwe ist geplagt von Zweifeln. Obwohl sie abgeschirmt in der strengen Obhut der Blut-Kirche war, hat Mireya das Schweinegesicht des Wachtmeisters "im Traum" gesehen. Und woher hat der ihren Armreifen? "Gott sei gelobt" ("Dieu soit loué") - dem frommen Imperativ seines Namens, den er kreolisch mit zwei W schreibt, kann er nicht gehorchen. Klarheit schenkt ihm nicht der gelobte Herr, sondern der Zuckerrohrschnaps Tranpe: Sein Kind ist in den Händen blutsaugerischer Menschenhändler, die Haiti unter dem Deckmantel christlicher Missionsarbeit als Organbank benutzen.
Die grellen Farben der Verzweiflung, eine knochenmarkzerstörende Bitterkeit und das schrille Kichern des Deliriums sind die Zutaten, aus denen Gary Victor dieses 130-Seiten-Konzentrat großartiger Kriminalliteratur ausgekocht hat. Haiti überlebt!


Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 7 vom 6.2.2014