Tobias Gohlis über Robert Wilson: Der Blinde von Sevilla

 


Die Wahrheit über die blaue Division

Der Blick ins eigene Gewissen ist es, der tötet

Ein Bräutigam des Todes

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Robert Wilson: Der Blinde von Sevilla. Aus dem Englischen von Kristian Lutze

 

 

Ein Blick zurück und du bist tot

Anzuzeigen ist einer der besten Kriminalromane des Jahres: Robert Wilsons Der Blinde von Sevilla. Wilson ist wie sein berühmter amerikanischer Namensvetter ein Meister der Zeitbeherrschung und –behandlung. Das Markenzeichen des amerikanischen Bühnenbildners und Regisseurs ist die extreme Verlangsamung, die Zerdehnung von Bewegungen und zeitlichen Abläufen. Ganz anders der in Portugal lebende englische Schriftsteller Robert Wilson. Sein Prinzip ist die Ballung. Ihn treiben die Verwüstungen und Verheerungen des zwanzigsten Jahrhunderts um: der Zweite Weltkrieg, die Verbrechen des Faschismus. Drei Romane sind bisher auf Deutsch erschienen. Tod in Lissabon von 1999  ist der grandiose Abenteuerroman: Ein deutscher Unternehmer schmuggelt für die Nazis kriegswichtiges Wolfram aus Portugal. Das verdeckte Gesicht von 2001 ist der – etwas schwächere - Spionageroman: eine Engländerin und ein Deutscher konspirieren gemeinsam gegen Nazis, Sowjets und die Verräter bei MI 6. Und jetzt, mit anderem Schauplatz und einem Kommissar als Serienhelden, der Künstlerroman: Der Blinde von Sevilla, in England 2003 erschienen.

Die Wahrheit über die blaue Division
Wie schon in Tod in Lissabon greift Wilson ein Nebenkapitel europäischer Kriegsgeschichte auf, das  der „Blauen Division“. Obwohl ihn die deutschen und italienischen Faschisten bei seinem Staatsstreich gegen die Republik unterstützt hatten, ließ sich der spanische Diktator Franco nicht in den Angriffskrieg Hitlers verwickeln. Nur eine Truppe von spanischen Freiwilligen, die „Blaue Division“ oder división azul, stützte die nationalsozialistische Fiktion eines „europäischen“ Krieges gegen die Sowjetunion. Dass diese Freiwilligen gar nicht so freiwillig, sondern als Soldaten der spanischen Fremdenlegion ins kalte ferne Russland einmarschierten, erfährt Javier Falcón, Chefinspektor in der Mordkommission von Sevilla, aus einem Tagebuch, das ihm sein Vater hinterlassen hat.
Das Vergangene ist nicht vergangen – der Satz Faulkners ist Wilsons Gesetz. Wie bereits in den beiden vorausgehenden Romanen wirken sich die Schuldverstrickungen aus den gesetzlosen Zeiten des Krieges auf Kind und Kindeskind aus. Schuld wird vererbt. Das ist die bittere Lehre, die Javier Falcón beinahe mit dem Leben bezahlen wird. Denn je weiter die Ermittlungen in dem monströsen Fall des „Blinden“ voranschreiten, desto tiefer versinkt Falcón in den Abgründen seiner Familiengeschichte. Er muss, so das perfide Kalkül des in Sevilla während der Karwoche wütenden Serienmörders, die Untaten seines verstorbenen Vaters aufdecken, wenn er begreifen will, was geschieht.

Der Blick ins eigene Gewissen ist es, der tötet
Der Blinde von Sevilla ist ein Roman über das, was man nicht wahrhaben will. Der Mörder tötet seine Opfer, indem er sie zwingt, sich die Bilder anzuschauen, die sie an das Entsetzlichste und Widerwärtigste erinnern, das sie begangen haben. Damit sie dem nicht ausweichen können, was er ihnen zeigt, fesselt er sie und schneidet ihnen die Augenlider ab. Das erste Opfer ist ein alter Baulöwe, Spekulant und Restaurantbesitzer. Er stranguliert sich selbst in seinen  Fesseln, weil er die Scham nicht ertragen kann, die ihn bei der Konfrontation mit seinem schlimmsten Verbrechen überfällt.

Ein Bräutigam des Todes
Dieser Raúl Jiménez war, so stellt sich heraus, in den fünfziger Jahren in Tanger Geschäftspartner von Falcóns Vater, als die marokkanische Hafenstadt dank ihres internationalen Status ein Umschlagplatz für Waffen, Drogen und Illegale war. Dort sind auch jene vier Akte gemalt worden, die Falcóns Vater, den Maler Francisco Falcón, weltberühmt gemacht haben. Dieses Inbild eines genialen Künstlers entpuppt sich in seinen Tagebüchern als novio de la muerte, als „Bräutigam des Todes“, der von seinen ersten Tagen als Söldner Francos an eine Blutspur gezogen hat. Falcón fürchtet, einem so Entsetzen erregenden Geheimnis auf der Spur zu sein, dass er immer tiefer in Depression versinkt und sich sogar auf eine Psychotherapie einlässt. Waren Mord, Verrat und Gewaltexzesse der Preis für die geniale Inspiration des Malers, für den Blick durch jenen Spalt, der einen manchmal das Wesen der Dinge erkennen lässt, wenn man „gesegnet“ ist? So hat der Vater dem Sohn suggeriert.

Der Blinde von Sevilla betört durch komplexe Konstruktion und einen geschichtsgesättigten, zu Nachdenklichkeit anregenden Plot: Wie wird Schuld getilgt? Ist es möglich, die Geleise der Eltern zu verlassen? Was ist der Preis dafür? „Gute Maler ahmen die Natur nach, schlechte speien sie aus“, hat Cervantes bemerkt. Wilson, der den spanischen Klassiker zitiert, ballt sie zu Romanen.