Tobias Gohlis über Ian Rankin: Das Souvenir des Mörders


Revier am Ende der Sackgasse

Bible John und Johnny Bible

Die Gier des Polizisten

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Ian Rankin: Das Souvenir des Mörders

Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini

 

 

Den besten Krimi des Jahres 2005 …

soll ich Ihnen vorstellen.
Da fällt die Auswahl schwer. Schauen Sie sich nur mal an, welche Autoren 2005 auf den ersten Plätzen der KrimiWelt-Bestenliste standen. Fred Vargas, Leonardo Padura, David Peace. Französische Fabuloserie, karibische Melancholie, Blutpudding aus Yorkshire.

Trotzdem fällt meine Wahl auf Ian Rankins Das Souvenir des Mörders. Es ist ein Buch, das man nicht ausliest und immer wieder lesen kann, ein Kosmos an Stoffen, Fällen, Schauplätzen, das schottischste, komplexeste und beste Buch dieses Autors.

Ian Rankin schrieb Black and Blue – so lautet der englische Originaltitel nach dem 1976 veröffentlichten Album der Stones – in Frankreich. Dorthin hatte sich der junge, fleißige, aber nur wenig erfolgreiche Schriftsteller mit Frau und seinem kleinen Sohn zurückgezogen, um weit entfernt von Schottland zu arbeiten. Doch dann kam sein zweiter Junge zur Welt. Es stellte sich heraus, dass er behindert war – und all die Unruhe, die Frustration, die Sorgen und die Verzweiflung der Eltern, das hilf- und rastlose Hin und Her zwischen Krankenhäusern und Arztterminen, haben Eingang in diesen Koloss von Roman gefunden.

Revier am Ende der Sackgasse
Es beginnt, wie oft bei Rankin, mit einem rätselhaften und desperaten Fall, im Nebel aus Whisky und Bier. Ein Arbeiter kommt von seiner 16-Tage-Schicht auf einer Ölplattform zurück nach Hause, lernt in einer Kneipe zwei Typen kennen. Sie beschließen, zu Hause weiter zu feiern. Die Kumpel schaffen den Betrunkenen in eine Abrisswohung, fesseln und knebeln ihn mit einer Plastiktüte. Doch bevor sie tun können, was immer sie vorhaben, stürzt sich der Gefesselte in einem Verzweiflungsakt aus dem Fenster und hängt aufgespießt im Gitter vor dem Haus.
Inspector John Rebus ist gerade versetzt worden. Sein neues Revier liegt am Ende einer Sackgasse. Der Einzelgänger, den keiner so recht mag und kennt, ermittelt lustlos. Denn eigentlich plagt ihn etwas ganz anderes.

Bible John und Johnny Bible
Es ist der bis in die heutigen Tage unaufgeklärte wahre Fall des „Bible John“. Diesem schottischen Serienkiller werden die Morde an drei jungen Frauen zugeschrieben, die 1968 und 1969 nach dem Besuch einer Disko in Glasgow erschlagen und vergewaltigt wurden.
Neu aufgerührt wird – in Rankins Fiktion - diese alte Geschichte, weil ein Nachahmer aufgetreten ist. Bereits drei junge Frauen sind „Johnny Bibles“ Opfer geworden. John Rebus, der „Terrier“, hat die Spur aufgenommen. Seinen Status als Detective Inspector nutzt er zu immer weiter ausgreifenden Alleingängen, unbekümmert um Regeln und Vorschriften, ein „Privatdetektiv innerhalb der Polizeitruppe“, wie die schottische Literaturwissenschaftlerin Gill Plain in einer instruktiven Analyse („Ian Rankin’s Black and Blue“, 2002) bemerkt. Seine Recherche wird zur Obsession.

Denn Rebus ringt mit den Nationalsünden der Schotten: „Die Augen vor den Problemen verschließen und ständig Schuldgefühle haben.“ Zumindest Ersteres will er nicht, und so trägt er in Glasgow und Aberdeen, auf den Shetlands und in Edinburgh Aussagen, Dokumente, Fitzelchen von Informationen zusammen, korrumpiert sich mit Gangstern und bestochenen Bullen, wühlt sich immer tiefer in eine schottische Gegenwart, die immer irrealer, gewalttätiger und verbrecherischer wird, je intensiver er ermittelt. Er kann nicht loslassen. Denn ihn quält der Verdacht, er sei mitschuldig am Tod eines Unschuldigen, den sein Mentor vor Jahren mit untergeschobenen Beweismitteln ins Gefängnis gebracht hat. Je verbissener Rebus in mehreren Fällen zugleich nach Spuren von Wahrheit sucht, desto tückischer entzieht sie sich.

Die Gier des Polizisten
Es ist die Last der Vergangenheit, die Rebus vergeblich abzuschütteln versucht. Jethro Tulls Songtitel „Living in the past“ ist eines der Leitmotive dieses dunklen, großen schottischen Romans. „Das Souvenir des Mörders“ könnte auch „Die Gier des Polizisten“ heißen. Rankin entfaltet in diesem Roman, der ihm etliche Preise und international den Durchbruch brachte, erstmals voll den düsteren Sog seines Helden, der ein trauriger, tapferer und einsamer Mann ist, machtlos, aber ein Held dieser Zeit. Grün und blau geschlagen, aber unbeirrt.

Unredigierter Text, veröffentlicht als Buchtipp bei Arte am 29.12.05

Siehe auch: Tobias Gohlis über Ian Rankin Das Puppenspiel

Siehe auch: Tobias Gohlis über Ian Rankin Die Seelen der Toten

Siehe auch: Tobias Gohlis im Gespräch mit Ian Rankin über Im Namen der Toten