Tobias Gohlis über Ian Rankin: Puppenspiel


Noch die letzte Seite ist wichtig

Strohhalme

Ein religiöser Zug

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Ian Rankin: Das Puppenspiel

Aus dem Englischen von Christian Quatman

 

 

 

 

Edinburgher Kriminalmetaphysik

Unter den britischen Krimiautoren, die in den letzten anderthalb Jahren an dieser Stelle besprochen wurden - Andrew Taylor, Joolz Denby, Liza Cody, Reginald Hill, Val McDermid, Robert Wilson, Michael Dibdin, Philipp Kerr und andere - ist der Schotte Ian Rankin scheinbar der konventionellste. Rankin bewegt sich auf dem soliden Terrain des klassischen Polizeiromans, und die Fälle, mit denen es sein griesgrämig-eigenbrötlerischer Inspector John Rebus zu tun hat, sind eher alltäglicher Natur. Die entspannte Abwesenheit von Exzentrizität mag zu Rankins Ruf als "Großbritanniens führendem Kriminalautor" beigetragen haben. Doch bestätigt diese Auszeichnung durch die Kollegen des Time Literary Supplement, dass Rankins nunmehr dreizehn Bücher gewissermaßen die Quintessenz dessen bilden, was gegenwärtig den britischen Kriminalroman auszeichnet.

Noch die letzte Seite ist wichtig
Zu diesen Tugenden gehört an erster Stelle die Ökonomie: Briten erzählen breit, aber selten zu viel (Altersstrickware wie P.D. James' Tod an heiliger Stätte bilden die Ausnahme). Darin unterscheiden sie sich löblich von der US-amerikanischen Konkurrenz, deren Bestseller in der Regel mit zwei- bis dreihundert Seiten weniger auskommen könnten. Auch Rankins jüngst erschienenes Puppenspiel umfasst 636 Seiten - und noch die letzte trägt zur Aufklärung des Geschehens bei. Darin erläutert der Autor in einem knappen Nachwort einige Realitätsbezüge seines ausgreifenden Verwirrspiels.
Eine Studentin aus reicher Familie ist verschwunden, der Vater macht öffentlich Druck, die neue Revierchefin muss beweisen, dass sie zu Recht befördert wurde. Die Stimmung im Edinburgher Revier St. Leonard ist mies, trotz hunderter Überstunden von Streifenbeamten und Kriminalisten gibt es nicht eine Spur zu der verschwundenen Person, die raren Zeugen wissen von nichts. Da wirken Strohhalme wie Eichenbalken. In der Nähe des Landsitzes der Eltern wird auf dem Feld eine Holzpuppe in einem Sarg gefunden. Im Laptop der Verschollenen verweist die einzige ungelöschte E-Mail auf ein Suchspiel, bei dem es um die Auffindung bizarrer Orte geht.

Strohhalme
Da brauchbarere Hinweise fehlen, folgen John Rebus und seine Schülerin Siobhan Clarke ihrem Instinkt und hangeln sich an diesen Strohhalmen fort. Ob Puppen und Computerspiel überhaupt mit dem Fall der verschwundenen Studentin zu tun haben, ja ob es sich überhaupt um einen Kriminalfall handelt, wissen sie lange nicht. Besessen von ihrer jeweiligen Rätselaufgabe verlieren sie sich - Rebus in der Vergangenheit des frühen neunzehnten Jahrhunderts, Clarke in der virtuellen Höhlenwelt eines Verführers per E-Mail, der sie mit dem einzigen Versprechen lockt, das einen Kriminalisten bis zur Selbstaufgabe reizen kann: sich persönlich zu stellen.

Ein religiöser Zug
Ein quasi-religiöser basso continuo durchzieht den britischen Kriminalroman: die eine, wahre Wahrheit hinter den Schleiern von Heuchelei, Verstellung, Lüge und Selbstbetrug zu offenbaren. Das fordert persönliche Opfer. Chestertons Father Brown war Priester, bei Bill James herrscht Kreuzzugswahn in der Polizeispitze. Rankins John Rebus führt seine Ermittlungen als Heiligen Ein-Mann-Krieg. Er lässt sich sogar anstelle einer Kollegin suspendieren, ein Märtyrer seines Solipsismus. Rebus' Beweggründe sind mindestens so rätselhaft wie die des Serienmörders, auf den er stößt. Warum dieser über Jahrzehnte junge Frauen verschwinden ließ und warum er in der Nähe ihrer Wohnorte kleine Holzpuppen in Särgen ablegte, bleibt letztlich ebenso ungeklärt wie die plötzlichen Entschlüsse des Kriminalisten.
Rankin erklärt nicht, sondern erzählt: von einem Kriminalbeamten, der sich als Person aufzulösen beginnt; von Edinburgh, dem heimlichen Helden seiner Rebus-Romane; von Dr. Jekyll und Mr. Hyde in jedem Schotten. Rankin erzählt mit der Ruhe dessen, der weiß, dass ihm die Welt zur Verfügung steht, und seine schottische ist grenzenlos, ein Meer der Empirie. Irgendwann wird Rebus 60 und pensioniert werden, doch seine Schülerin wird weiter Spuren lesen und Verbrecher überführen, deren Taten niemand erklären kann. Rankin trägt den Leser Seite um Seite lustvoller ins Grübeln über die Metaphysik des Kriminalromans: Was liegt denn nun hinter den Fakten, Fakten, Fakten? Das ist Spannung.

Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 44/ 24.10.2002

Siehe auch: Tobias Gohlis über Ian Rankin Das Souvenir des Mörders

Siehe auch: Tobias Gohlis über Ian Rankin Die Seelen der Toten

Siehe auch: Tobias Gohlis im Gespräch mit Ian Rankin über Im Namen der Toten