Tobias Gohlis über Jon Ewo: Rache




Das einzige, was ein Verbrecher gelernt hat

Mit Ewo in die Unterwelt

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Jon Ewo: Rache

Jon Ewo: Torpedo

Beide aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt

 

 

 

 

In der Falle der Rechtschaffenheit

Auch Verbrecher brauchen hin und wieder Ruhe und einen Ort, wo man einen heben kann, ohne im nächsten Augenblick in eine Schlägerei oder Schlimmeres zu geraten. Die Bar „Exil“ in Oslo ist so eine entmilitarisierte Zone. Waffen bringt man hierhin nicht mit. Das „Exil“ gehört Axel Hoel. Wenn ein Mann durch die Tür hereinkommt, „dessen rechter Arm auf unnatürliche, steife Art“ herunterhängt, schrillen bei Axel die Alarmglocken. Früher, bevor er das „Exil“ erwarb und damit auf die friedliebende Seite des Gesetzes wechselte, hat er als „Torpedo“ gearbeitet. So nennt man in Oslo die Geldeintreiber der Gangsterbanden. Da hat er gelernt, „schnell auf Kleinigkeiten zu achten: Eine Jacke, die auf der einen Seite zu lang herunterhing. Eine Ausbuchtung zuviel auf der einen Seite des Brustkastens. Oder ein Arm, der unnatürlich an den Körper gedrückt wurde. Solche Details konnten den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten.“
Und Schnelligkeit. Da Axel dem Mann nicht ausweichen kann, bricht er ihm mit einem Schlag der Handkante das Schlüsselbein, bevor der Eindringling seine abgesägte Schrotflinte herausgefummelt hat.

Das einzige, was ein Verbrecher gelernt hat
Das Auftauchen des Killers ist nur ein Hinweis, dass es vorbei ist mit dem Frieden. Vor ein paar Tagen erst wurde ein alter Kumpel auf der Straße vor dem „Exil“ beschossen. Axel befürchtet, dass die „Vergangenheit niemals aufhört, ihn zu quälen.“
Denn Axel Hoel befindet sich in der klassischen Falle eines Gangsters, der kein Gangster mehr sein will: der Rechtschaffenheit. Um das Leben als Gesetzloser hinter sich zu lassen, muss man meist die einzigen Fähigkeiten, die man erworben hat, anwenden, und die sind nun einmal kriminell. Schon lange hatte Hoel das Milieu verlassen wollen, aber nicht ohne einen letzten Coup zu landen. Der brachte ihm den Verlust eines Fingers und eines Ohres sowie eine Narbe im Gesicht ein. Wie Hoel gerade noch mit dem Leben - und einem Koffer voll Geld – davonkommt, erzählt Jon Ewo in dem ersten Band seiner Hoel-Trilogie Torpedo. Jetzt, im soeben erschienenen zweiten Band Rache, wird Hoel doppelt von seiner Vergangenheit eingeholt. Weil er einem Kumpel, der ihm einmal das Leben gerettet hat, bei der Bereinigung einiger Konflikte mit einem Bordellunternehmen hilft, gerät er selbst mit diesem aneinander. Doch Pech für Hoel: der Betrieb hat zwei Chefs: während der eine die Probleme geschäftsmäßig auf dem Verhandlungswege regeln will, sinnt der andere auf Tod und Rache. Denn Axels ehemaliger Kompagnon hat ihn mit einem Bajonett schwer verstümmelt. Und so sieht sich der friedliebende „Exil“-Besitzer in einen Zweikampf mit einem durchgeknallten jugoslawischen Killer verwickelt, den er nur dann gewinnen kann, wenn er den aufgezwungenen Feind umbringt. Erschwert wird seine Situation durch seine deutsche Freundin Irina, die ein Kind von ihm erwartet, aber erst dann mit ihm zusammenleben will, wenn der zukünftige Vater alle kriminellen Aktivitäten eingestellt hat.

Mit Ewo in die Unterwelt
Jon Ewo zeichnet Hoel als einen verschlossenen Gentleman mit gutem Geschmack für Kleider und klassische Musik, dem Ehre und Loyalität über alles gehen. Die daraus resultierenden Verpflichtungen widersprechen sich, und Hoel muss dorthin, wohin er nicht will: zurück in die Unterwelt. Diese hat Ewo gründlich studiert, und der größte Reiz seiner flott und höchst spannend erzählten Befreiungsversuche eines Gangsters aus seinem Milieu besteht in der drastischen Schilderung desselben. Torpedo fasziniert durch die genaue Kenntnis ex-sowjetischer, tschechischer und jugoslawischer Gangsterbanden, in Rache lernt der Leser die brutalen Praktiken von Mädchenhändlern, Puffkönigen und norwegischen Bikerbanden kennen. Selten (eigentlich nur noch in den Kiezromanen Frank Göhres) wurden Ideale, Riten und Verhalten der Krimellen-Welt so akribisch, fast ethnographisch dargestellt wie bei Jon Ewo.
Mit seinem realistisch-skeptischen Blick von unten unterscheidet sich Ewo von der Dauerwelle der skandinavischen Krimiautorinnen und -autoren, die melancholische Kommissarinnen und Kommissare höchst voraussehbare und zugleich abstruse Fälle bearbeiten lassen. Ähnlich wie der Australier Gary Disher mit seinem Helden Wyatt schreibt Ewo Jugendromane und parallel Gangsterballaden. Er selbst bezeichnet sie als „kriminelle Romane“, weil ihm die übliche Abfolge Mord - Ermittlung – Aufklärung „albern“ vorkommt. Das ist Hoels Geschichte wirklich nicht.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 24, 6.6.2002