Tobias Gohlis über Carol O'Connell: Such mich!

 


Alles fließt

Knöchelchen zurück an Mutter und Vater

_________

Carol O'Connell:
Such mich!

Aus dem Amerikanischen von
Renate Orth-Guttmann

 

Verloren auf der Mother Route

Carol O'Connell fasziniert mit einem Rolling Stone von Kriminalroman

"Das ist das Fragwürdige am Fortschritt: Im Licht der Städte kannst du die Sterne nicht mehr sehen." Unendlich ernst vorgetragener Existenzialismus aus den siebziger Jahren, Lebensweisheiten eines Tramps. Mallory, Katzengesicht, grüne Augen, kein Vorname, hat auf dem Beifahrersitz ihres als VW-Käfer getarnten Porsche einen Packen alter Briefe liegen. Diese Reiseerinnerungen und ein Guidebook mit den Sehenswürdigkeiten der mythischen Route 66 sind ihre Orientierungshilfen. Und die Leichen, die ein Serienkiller am Rande der Nebenstraßen drapiert hat, die einmal die berühmteste Verbindung zwischen Chicago und Santa Monica waren.

Alles fließt
Carol O'Connell, geboren 1947, hat Kunst studiert und sich lange mit Gelegenheitsjobs und surrealistischer Malerei durchgeschlagen. Surrealistisch sind auch Szenerie und Erzählweise ihres neuen Kriminalromans Such mich!. Alles ist im Fluss. Mit schnellen Sprüngen zwischen den Szenen in New York (Auffindung einer erschossenen Frau in Mallorys Apartment), Chicago (vor dem Institute of Art liegt eine Leiche und weist westwärts: dieser Route müsst ihr folgen) und Tankstellen, Imbissen, Telefonzellen gerät der ganze Roman in rollende Bewegung. Wie aus dem Fenster eines fahrenden Autos gesehen sind die Szenen mal scharf, mal verschwommen. Eingeschoben Briefzitate, Bibeltexte, Albträume. Als Kind hatte Mallory täglich in der Central Station New Yorks die Vorübereilenden gemustert: Hast du meine Augen, bist du mein verschütt gegangener Vater? Jetzt ist sie erwachsen, gehärtet vom Schmerz. Sie ist die coolste, gefühlsärmste, penibelste und erfolgreichste Kriminalbeamtin New Yorks. "Eine Soziopathin", sagt ihr Partner Riker, und man weiß nie, was sie tun wird. Mit ihrem getarnten Geschoss rollt sie die Route 66 lang, inmitten eines Pulks von Eltern, die die Fotografien ihrer seit Jahren vermissten Kinder hochhalten. Unter ihnen ein abtrünniger Priester und Internet-Therapeut. Der hält – doppelt an Beichtgeheimnis und ärztliche Schweigepflicht gebunden – mobiltelefonisch Kontakt mit dem Killer, der nicht mehr, wie früher auf kleine Mädchen aus ist, sondern auf größere Opfer.

Knöchelchen zurück an Mutter und Vater
Die Kinder hat er an der Mother Route vergraben, und die Eltern hoffen, das die Jammerkavalkade begleitende FBI-Team werde ein paar der wieder ausgebuddelten Knöchelchen ihrer Familien-DNA zuordnen können. Dieser Zug der verzweifelt Hoffenden entlang einer sterbenden und musealisierten Straße, flankiert von dem rasenden kalten Engel Mallory ist ein verstörendes Bild amerikanischen Lebens – wahrhaftig, weil durch eine dieser polarisierten Sonnenbrillen verzerrt betrachtet. O'Connell erzählt ihre Detektivgeschichte als Abenteuer, als traumatisch-groteske Wiederkehr des großen amerikanischen Trecks nach Westen, als Reiseepos zur Erlösung durch Untergang. Mallory wird, das darf verraten sein, ein Ende ihrer persönlichen Suche finden. O'Connell hat mich süchtig gemacht. Im Sommer will der Verlag den ersten Band der Serie mit Mallory wieder veröffentlichen. Und dann: immer weiter!

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung im Die Zeit Nr. 10 vom 4.3. 2010

Siehe auch: Tobias Gohlis über Carol O'Connell „Kreidemädchen“

Siehe auch: Tobias Gohlis über Carol O'Connell „Tödliche Geschenke“