Das Verschwinden der Reiseführer im Content


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Seltener Reisender

Hoffnungen des Anfangs: Debatten um Kulturgut

Bildungsgut? Gebrauchsanweisung

Contentisierung

Eine kleine Untersuchung zur DomRep

Ununterscheidbarkeit der Reiseführerangebote

Globalisierungsopfer

 

 

 

 

 

DAS VERSCHWINDEN IM content

Vom Bildungsgut zum Tippgeber mit Adressanhang – Versuch über Gegenwart und Zukunft der Reiseführer

Vortrag zur 4. Reiseliteraturtagung der Stiftung Lesen in Saarbrücken am 15.2.2002

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

vor knapp sechs Jahren sind wir in Apolda zum ersten Mal zu einer Reiseliteraturtagung dieser Art zusammengekommen. Viele, die damals dabei waren, sind auch heute wieder da.

Seltener Reisender
Einer, der damals einen Vortrag aus dem kleinen Hut mit der Feder dran zauberte, hat inzwischen seine letzte Reise angetreten: Hans Scherer. Ich erinnere nicht nur aus persönlicher Trauer an diesen charmanten und klugen Kollegen. Hans Scherer war ein Schreiber und Reisender, wie es ihn heute kaum mehr gibt. Niemand wäre auf die Idee gekommen, diesen Stilisten des Beiläufigen und der scharfen Beobachtung, diesen wahren Kenner von Büchern, Ländern und Menschen, diesen Feuilletonisten und Eigenbrötler als Touristen zu bezeichnen, höchstens er selber in einem Anfall von Selbstspott.
Scherer, der in der FAZ die Rubrik „Bücher für die Reise“ ins Leben gerufen und damit überhaupt zum ersten Mal für eine kritische Berichterstattung über diese eigentümliche Art von Literatur in der Presse nach 1945 gesorgt hat, hat für sich persönlich nur wenige Reisebücher als nützlich befunden. Eines war ein Prestel-Landschaftsführer Elba. Ich zitiere Scherer: „Vernon Bartlett (der Autor) schildert Elba so eindringlich – als Historiker wie als Reisender – dass der Leser bald wie eine Marionette an seinem Draht zappelt: Das will ich mir selbst ansehen, das muss ich mir selbst ansehen. Wir fuhren zu zweit kreuz und quer über die Insel und stellten uns jeden Morgen die Frage: was empfiehlt uns Bartlett für heute? Wir reisten nach Programm und fanden es wunderschön.“
Die Überwältigung durch das Prestelbuch war eine Ausnahme. Normalerweise, so berichtete er, saß er nach einer Reise am Schreibtisch: „Links von mir steht ein Bücherturm, alles Gedruckte, über das Reiseziel, das ich greifen konnte (..). Außer nach der Schreibweise von Namen – ich sehe fast nie hinein.“

Hoffnungen des Anfangs: Debatten um Kulturgut
Scherer bemerkte damals, ausgerechnet ihn als Referenten über das Thema Reiseführer zu benennen, sei einer gehässigen Stimmung entsprungen. Nun, gehässig war ich, der ihn nach Apolda gebeten hatte, nicht. Eher hoffnungsvoll. Vor 1996 hatte sich überhaupt erst eine einzige Tagung – im kleinen Kreis – mit dem Phänomen der Reiseführer beschäftigt. Mir schwebte damals vor, einen kritischen Diskurs in Gang zu setzen zwischen Kritikern, Wissenschaftlern, Autoren und Verlagsmenschen – viele Rollen oft in einer Brust. Es war eine Idee, so schwer zu realisieren wie die Verbesserung Mitteleuropas. Bereits auf dieser Tagung dominierten Missverständnisse den öffentlichen Ton: Wissenschaftlern und Kritikern wurde vorgeworfen, sie stellten abstrakte Anforderungen auf, die an den Realitäten und Zwängen des Reiseführergeschäfts vorbei gingen; Wissenschaftler konnten ihre Theorien den Praktikern unter Ablieferungs- und Druckterminzwang nicht einleuchtend machen. Ich selbst ließ damals einen historischen Überblick über die Literatur des Reisens seit 3000 Jahren in den Appell münden:

„Warum sollten Reiseführer nicht auf das erstaunliche und wunderbare Arsenal, das die Geschichte der Reiseerfahrung vorgeführt hat, zurückgreifen und neue Modelle des Reisens entwerfen? Die Möglichkeiten des Reisens sind immer leichter geworden. Warum nur bleiben die Phantasien dahinter so weit zurück? Warum beschreiben Reiseführer immer nur das, was alle schon wissen, nicht aber Verfahren, mit denen man etwas entdecken könnte?“


Zugegeben: Diese Fragen waren vielleicht nicht ganz an die richtige Adresse gerichtet. Schließlich kann man von DuMont, Mair, Polyglott, Reise Knowhow oder beliebigen anderen Verlagen nicht erwarten, dass sie die Phantasie an die Macht bringen. Dass der Tanker jedoch gänzlich unbeeinflusst dem einmal eingeschlagenen Kurs weiter treiben würde, hatte ich nicht angenommen.

Bildungsgut? Gebrauchsanweisung
In ihrer 1995 veröffentlichten Dissertation über „Produktion, Aufbau und Funktion von Reiseführern“ unterscheidet Sabine Gorsemann, selber Autorin mehrerer Reiseführer, zwischen zwei Funktionen, die diese Textgattung für den Lesenden/Reisenden habe: Sie diene als Bildungsgut und als Gebrauchsanweisung. Als Beispiele für das Bildungsgut nannte sie die destinationsbezogene Vermittlung klassischen bildungsbürgerlichen Wissens, hauptsächlich über Kunst, Architektur und Kultur sowie Landeskunde. Sie führte hierfür als besondere Beispiele Gebiete an, die damals touristisch noch wenig erschlossen und wissenschaftlich auch nicht von prickelndem Interesse waren wie die Färöer, Namibia, Estland. Die Reiseführer noch der frühen neunziger Jahre seien damals komprimierte Landeskunden mit durchaus wissenschaftlicher Relevanz gewesen.


Heute ist es nicht einmal mehr polemisch, dem Reiseführer das Epitheton Bildungsgut abzusprechen.

Vor zehn Jahren gab es noch drei auf das bildungsbürgerliche Publikum speziell zugeschnittene Reihen von Kunstreiseführern: Knaur, Artemis, DuMont. Knaur widmet sich heute der Präsentation von kulinarischen Landschaften, Artemis ist nach einigen Versuchen, die Kunst- als Kultur- und dann als Allroundführer mit K-Schwerpunkt zu relaunchen, vom Markt verschwunden. Nur DuMont hält tapfer durch. Wie lange noch? Dem Trend, um den es mir hier geht, musste auch DuMont mit einem Relaunch der Kunstführer-Reihe folgen: Der so genannte gelbe Teil mit Serviceadressen, Hotels, Restaurantempfehlungen, Öffnungszeiten und Telefonnummern der Sehenswürdigkeiten sowieso wurde ausgeweitet.
Ganz von der Bildfläche verschwunden sind die Mundo-Reiseführer, gewaltige landeskundliche Kompendien, auf die Gorsemann wohl angespielt hat. Einige von ihnen führen ein Nischenleben nach dem Tode wie etwa der berühmte Namibia-Band, der gerade gründlich überarbeitet in der Edition Temmen wiederaufgetaucht ist. Noch schlechter ist es der Reihe Anders Reisen bei Rowohlt ergangen. Trotz der in vielen Titeln gelungenen Verbindung von kluger Reiseanleitung, Ideengebung und kritischer Landesinformation konnten irgendwann die Renditevorgaben der McKinseys nicht eingelöst werden.
Als Spezialreihen für Manager, Langzeitreisende und Residenten führen noch einige Land&Leute-Bände ein Leben im Schatten der Großen.

Contentisierung
Der Untergang dieser der Kultur- und Landeserschließung dienenden Reihen ist jedoch nur der äußere Eckpunkt einer viel weiter reichenden Entwicklung, die ich in Anlehnung an den im Internetgeschäft gebräuchlichen Begriff Contentisierung nennen möchte.
Erhellend könnte hier die Definition aus Microsofts Computerlexikon, Ausgabe 2001 sein:
"Content, der; Subst. (content)
Die Daten, die sich zwischen der Start- und Endemarke in einem Element eines SGML- oder HTML-Dokumentes befinden. Bei diesen Daten kann es sich um reinen Text oder um andere Elemente handeln."
Auf Deutsch: Bei Content handelt es sich um beliebige Inhalte, die gewissermaßen die Füllung eines Web-Dokuments ausmachen.
„Dabei kann es sich um reinen Text oder um andere Elemente handeln.“
Obwohl diese Definition rein formal nichts ausschließt, weder den Tagebucherguss noch das Urlaubsfoto, weder die 500-Seiten-Dissertation noch Fisches Nachtgesang, weder Video noch Ton, jpeg oder gif – erfordern die Lesegewohnheiten am Bildschirm eine bestimmte Zurichtung dieses Contents: er muss überschaubar sein, d.h. weder umfangreich, noch schwer zu entziffern oder zu begreifen; Botschaft und Zeichen sollten möglichst zusammenfallen; die Nutzanwendung sollte sofort erkennbar werden.

Wenn man noch einmal zurücktritt und sich fragt, worin denn die Haupttendenz aller Veränderungen im Reiseführerangebot in den letzten Jahren gelegen hat, ist dies mit den Begriffen Ausweitung des Adressteils, Orientierung der Auswahl und Empfehlungen an Aktivitäten und Events, Tipps für alle Haupt- und Nebenzielgruppen, weitere Standardisierung der Information zutreffend beschrieben.

Mir ist jedenfalls keine neue Reihe und kein Relaunch bekannt, der es sich zum Ziel gesetzt hätte, einen innovativen, ausführlicheren und entdeckungsfreudigen Kultur- und landeskundlichen Reiseführer zu starten. Das Gegenteil ist der Fall: jene Elemente, die Sabine Gorsemann in kritischer Absicht doppeldeutig unter „Gebrauchsanweisung“ subsumiert, wachsen – zwangsläufig auf Kosten der so genannten Bildungsgüter.
Aus meiner Sicht ist die Entwicklung eindeutig. Nur ein paar Beobachtungen, die bestätigen, dass es sich um einen Trend handelt, nicht jedoch um einen abgeschlossenen Prozess:

Eine kleine Untersuchung zur DomRep
In einer entsetzlich langwierigen Seitenzählaktion habe ich
14 Reiseführer zur Dominikanischen Republik durchgearbeitet. Der älteste war ein Mundoreiseführer von 1991, die Mehrzahl - alle Größen und Sorten – sind zwischen 2000 und 2002 erschienen.
Ein Vergleich der Textmengen mit landeskundlicher Thematik – Einführung in die Geschichte und Kultur, Themenkästen, Features – zeigt, dass es einen großen Bruch gab: Zwischen dem Mundoführer von 1991 und allen anderen. Im Mundoführer bezogen sich sage und schreibe 75% aller Texte auf Landeskunde. Service von A-Z, Rundgänge, Adressen von Hotels – all diese Lieblingsthemen von heute nahmen nicht mehr als 25% oder 85 von 340 Seiten ein. Dieses heute nicht einmal mehr antiquarisch erhältliche Werk ist eine Kostbarkeit und Fundgrube ersten Ranges. Die später erschienenen Titel - seien es so genannte hochpreisige Allroundführer oder die Reiseführer der 20-Mark-Klasse - enthalten alle um die 30% Kulturanteil, wobei ein gewisses Gefälle zu Ungunsten der Kultur zwischen der nun auch verschiedenen Edition Erde 1995 und den anderen festzustellen ist. Edition Erde hatte noch 35% Text mit landeskundlicher Thematik, darunter auffallende, der Leidenschaft des Herausgebers geschuldete Exkurse über koloniale Baustile. Am weitesten fortgeschritten – für niemanden hier verwunderlich – ist die Konzentration auf die Adresssammlerei bei den Pocketreiseführern, in denen Kulturell-Landeskundliches von Gehalt sowieso schwer auszumachen ist. Zusammenhängende Texte von mehr als 25 Zeilen zu Kultur und Landeskunde beanspruchen bei Marco Polo und Polyglott je um die 12%, bei DuMont Extra etwa 8% des Gesamtvolumens. Eine deutliche Trennung der Anteile, die auf Reisebeschreibung einerseits und Service/Adresslisten andererseits entfallen, erfordern mehr Zeit, Mittel, Nervenkraft und verfeinerte Suchinstrumente, als ich sie aufbringen konnte.
Interessant ist, dass die jüngste Kreation unter den drei Reihen, der DuMont Extra, entstanden aus dem doppelten Zwang, etwas anderes und etwas unterscheidbar Innovatives zu bieten, am krassesten contentisiert ist. Auch wenn der Autor eine enorme sprachliche Komprimierungsleistung erbracht hat: mehr als eine Adresssammlung ist es wirklich nicht.

Ununterscheidbarkeit der Reiseführerangebote
Eine weitere, vermutlich von Verlagsstrategen wie ein Tabu behandelte Folge des charakterisierten Trends zur Contentisierung ist die zunehmende Ununterscheidbarkeit der verschiedenen Verlagsangebote. Noch kann man auch bei einer Destination wie der Dominikanischen Republik zwischen Reiseführern unterscheiden, die sich betont an Individualreisende wenden und solche, die deutlicher einen idealen Gesamtreisenden ansprechen, der entweder kürzer oder länger im Lande weilt, mehr oder weniger an Wissen über das Land interessiert ist. Doch scheint es in unseren westlichen Gesellschaften nicht nur in der Politik ein Gebot zu sein, sich an der wie auch immer definierten Mitte zu orientieren. Vermutlich würde eine mühselige, teure und entsetzlich langweilige Untersuchung über die Entwicklung der Angebotsspektren von Reiseführern zu dem Ergebnis kommen, dass alle Relaunches, Überarbeitungen und Neuerfindungen, die dann von konkurrierenden Verlagen wieder aufgegriffen und getoppt werden, um eine sehr große gemeinsame Menge von Informationen kreisen, die nur an den Rändern individuelle Schwerpunkte der Reihenprofile erkennen lassen.
Kurz: Wer früher mit mehreren Reiseführern reiste, kriegt heute kaum noch Alternativen angeboten. Er reist mit irgendeinem.

Diese Entwicklung macht übrigens eine differenzierende publizistische Kritik von Reiseführern tendenziell sinnlos. Wer erinnert sich noch an die Redeschlachten, die wir in Leipzig 1999 über die Kriterien von Reiseführervergleichen ausgetragen haben. Schnee von gestern: die Kollegen von Globo, die sich jahrelang die Mühe machten, Gruppen und Staffeln von Reiseführern miteinander zu vergleichen und damit Standards wie für Waschmaschinentests zu setzen, haben ihr Werk vollbracht: alle Reiseführer einer bestimmten Preisklasse sind mehr oder minder gleich.

Es wäre sicher eine Überschätzung des Reiseführers als solchem, wollte man das Hinscheiden des Magazins Globo selbst darauf zurückführen, dass der berühmte Globotest keinen Gegenstand mehr gefunden hat.

Globalisierungsopfer
Ob die Ununterscheidbarkeit Folge von oder vorauseilende Spekulation auf das wirtschaftlich relevante Reiseverhalten großer Massen ist, möchte ich dahingestellt sein lassen. Eins scheint mir jedoch klar: die in Gorsemanns Formulierung von der Gebrauchsanweisung mitklingende Vorstellung, der Tourist erhalte per Reiseführer Rat zur sachgerechten Nutzung und Konsumtion der touristischen Produkte, wird immer wirklichkeitsgetreuer. Einem zunehmend standardisierten und zugleich ausdifferenzierten Angebot entspricht der Reiseführer, der schnell, gezielt und effektiv zu den Sahnehäubchen führt.
Dass diese Entwicklung nicht nur die Reiseführerkultur, sondern vor allem die Reisenden sowohl zu Globalisierungsgewinnern als auch zu Globalisierungsopfern macht, konnte man schon vor dem 11. September erkennen.