Das Verschwinden der Reiseführer im Content

 

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Cicerone ade!

Stil ist out

Autor ist out

"Steuerung Copy" reicht

Optimale Reiseinformation aus dem Internet

Schlussfolgerungen ... für Autoren

....für Verlage

 

 

 

 

 

DAS VERSCHWINDEN IM content III

Vom Bildungsgut zum Tippgeber mit Adressanhang – Versuch über Gegenwart und Zukunft der Reiseführer

Cicerone ade!

Vom Cicerone gibt es zwei Bilder. Die Urfigur ist der redselige, theatralische Fremdenführer, ein Verwandter des Clowns und des Straßenerzählers. Die andere Figur ist in Jacob Burckhards Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens beispielhaft entwickelt. Hier spricht der Autor als kunstsinniger Begleiter und vermittelt Einsicht in die Bedeutung der Kunstwerke durch Anleitung zum Miterleben und Nachdenken, durch wiederholte Betrachtung und historisches Verstehen.
Beide Autoren-Haltungen sind heute noch vertreten. Nimmt man sie als Karikaturen, textet der Schwätzer all diese von Hypes und Superlativen und Einzigartigkeiten strotzenden Tippgeber, während der Ästhet an fein formulierte, kenntnisreiche Einfühlungstexturen und Mentalitätsbeschreibungen Jahre seines Lebens verschwendet.

Stil ist out
Doch bewusst habe ich gesagt, es handle sich um Karikaturen. In der gegenwärtigen Produktionspraxis von Reiseführern spielen stilistische Kompetenz, gar Eigenart, keine Rolle mehr. Ob sich der Autor ein Privatvergnügen aus der Verfertigung schöner Texte macht, interessiert ihn und eine schwindend kleine Zahl von Lesern, jene, die imstande sind, die Wahrhaftigkeit eines guten Stils zu genießen. Verkauft wird die Marke.
Und das einzige Verfahren, zumindest sachliche Richtigkeit zu erzwingen, würde vermutlich Autoren wie Verlage in den Ruin treiben: die Einführung eines Rückgaberechts bei grobem Unsinn.
Dass aber nicht nur der Ästhet, sondern auch der Schwätzer ein auslaufendes Modell ist, könnte ungewollte Folge der Contentisierung sein. Wo es auf schnelle knappe, gewissenhafte Informationsvermittlung ankommt, braucht man keine Schwätzer. Wer es eilig hat, will wissen, wann der Zug abfährt und ob er pünktlich ist, nicht ob darin schon einmal ein Liebesmord an einem Mitglied des Hochadels begangen wurde.

Der contentiserte Reiseführer-Stil der Zukunft ist ein sachlicher mitteilender Stil, der keinen individuellen Autor mehr als Urheber hat, jedenfalls keinen, der schreiben kann.

Autor ist out
Wenn stilistische Eigenart überflüssig ist, wird natürlich auch die ihr zugrunde liegende Vorstellung vom Autor als einem kundigen Führer, Ratgeber und Begleiter obsolet, der seinen Gast wie ein Fremdenführer an der Hand nimmt.
Zwar liegt in dieser Vorstellung ein beträchtlicher Reiz, aber verwirklicht wird er nicht per Buch, sondern in der realen Begegnung: auf Reisen, die tatsächlich von Autoren geführt werden. Das kann eine menschlich sehr befriedigende Form von Autorschaft sein, die zudem, wenn man Organisationstalent und Knowhow hat, wohl auch ökonomisch ergiebiger ist als die Adressentipperei.
Im Grunde gehorcht die Verbissenheit, mit der einige Verlage an der Fiktion des Autors als Guide, Urheber oder Begleiter festhalten, einer Mischung von archaischer Romantisierung und knallhartem Marketing.
Machen wir uns doch nichts vor.
Bereits bei der Planung seiner Recherchen und der Auswahl der aufzusuchenden Sehenswürdigkeiten geht der Autor doch nicht von seinem Interesse, sondern Verlagsvorgaben aus. Das Reihenkonzept und nicht der Urheber bestimmt, wie viel in welcher Tonlage über was geschrieben wird, und wenn man als Autor von diesem Konzept abweichen will, braucht man mindestens Stehvermögen, möglichst ein Druckmittel und letztlich die Genehmigung der Chefetage. Hat man sein Buch erst einmal geschrieben, wird per Aktualisierung ein bisschen neuer Wein in den alten Sack geschüttet. Und jeder Autor hier kennt den Effekt, den die Verpflichtung an das einmal erstellte Layout erzwingt: um etwas Neues zu schreiben, muss man etwas Altes rausschmeißen. Der Wein wird immer schlechter, immer mehr Infos verstopfen den eh schon knapp bemessenen Text.
Und das Ende bringt der Relaunch: noch mehr Adressen, Adressen, Adressen.

Der Mair-Verlag ist ja immer wieder Modell für kommende Entwicklungen. So wie er in der Marco Polo-Reihe die reiche Individualität seiner Autoren hervorhebt, um den Insidertipps immer neu mit Authentizität aufladen zu können, erreicht er in seinen Baedekers ein hohes, und wie ich finde, jedenfalls in dieser Preisleistungsgruppe oft kaum zu überbietendes Niveau an lexikalisch-ungeschwätziger touristischer Information. Unter allen von mir zur Dominikanischen Republik durchgeackerten Reiseführern zeichnete sich der Baedeker dadurch aus, dass ich mir am besten ein Bild darüber machen konnte, ob ich die beschriebene Sehenswürdigkeit betreten wollte oder nicht. Erreicht wird dieses sachliche Vertrauensverhältnis durch den Verzicht auf den Autor: Es gibt eine Redaktion und es gibt Beiträger, die Texte zu einzelnen Gebieten beisteuern, von denen sie etwas verstehen.
Sachlich gibt es also gute Gründe, von der Fiktion des alles wissenden, alles verstehenden und alles erklären könnenden Autors Abstand zu nehmen: die sachliche Kompetenz könnte gesteigert, die Fehlerquote verringert werden, und vermutlich würde sogar der endgültige Text besser: Dann nämlich, wenn die Arbeitsteilung zwischen Rechercheur und Texter differenzierter wird. Wenn schon Content, dann lesbaren.

"Steuerung Copy" reicht
Ein weiterer Grund für das Verschwinden des Autors liegt in der Entwicklung des Contents selbst begründet:
Neues muss nicht mehr entdeckt werden. Alle Reiseziele sind so oft und gründlich beschrieben worden, dass ein gewitzter Autor sich darauf beschränken kann, aus der Masse des bereits Verfassten eine Auswahl zu treffen, diese je nach Verlagsvorgabe gelb, rosa oder dunkelblau auszuzeichnen und dann einen Monat herumzureisen, um allzu drastische Diskrepanzen zwischen Entwurf und Wirklichkeit zu vermeiden.
Allrounder unter den Autoren, die mir bekannt sind, haben nützliche Bücher geschrieben, die auf nicht mehr als einer vierwöchigen Reise durch ein ihnen bis dato unbekanntes Land führten.
Ich selbst habe kürzlich bei einer Überarbeitung meines Reiseführers Leipzig festgestellt: Praktisch alle sachlich relevanten Informationen werden auf dem Stadtserver und einigen anderen Internetquellen in bester aktueller Qualität zur Verfügung gestellt. Einige tage, die ich dort verbrachte, erwiesen sich unter dem Gesichtspunkt zielstrebiger Aktualisiserung als verschenkte Zeit. In Zukunft wird der Reiseführer nicht einmal mehr für Abschreibfehler verantwortlich sein: Mit der Tastenkombination Steuerung Copy übernimmt er die Infos direkt vom Server des Fremdenverkehrsamts.

Optimale Reiseinformation aus dem Internet
Natürlich bietet eine Stadt wie Leipzig eine entwickelte Internetstruktur, schon auf dem Lande und erst in weniger technologisch entwickelten Ländern sieht es anders aus. Doch zeigt sich am Beispiel der Regionen mit hoher Web-Informationsdichte, dass längst unter der Hand eine neue Form von Reiseführer entstanden ist.
Es ist derjenige, den man sich selbst in gewünschter Tiefe, Aktualität, geographischer und kultureller Informationsbreite zusammenstellt. Das Internet bietet alle gewünschten Informationen doppelt und dreifach, manche Informationen, wie die aus Tageszeitungen oder Veranstaltungskalendern, Bilder und Töne Kontakte mit Menschen vor Ort und alle Buchungsmöglichkeiten, sogar ausschließlich.

Wie im Märchen drei Rätsel zu lösen sind, braucht der Surfer drei Voraussetzungen: er muss das nötige Equipment haben, zumindest Englisch, besser noch: die Landessprache können, und wissen, wie man sich die Informationen aus dem Netz beschaffen kann.
Zumindest das letzte Problem, für viele das Abschreckendste, scheint aus meiner Sicht weitgehend gelöst. Mit meinem Kollegen Blittkowsky habe ich nämlich für das Internet die Mutter aller Reiseführer geschrieben. Darin haben wir alles, was man an Reiseformationen finden kann, vorgesurft, die wichtigsten Links zu allen Reisezielen der Erde kommentiert und nach Informationswert gewichtet. Das HANDBUCH REISEN & INTERNET kann ich Ihnen deshalb nur ans Herz legen.

Schlussfolgerungen...
... für Autoren
Typprüfung unausweichlich
1. Autoren vom Typus LITERAT, die Freude an der gelungenen sprachlichen Mitteilung über die Schönheiten und Eigenheiten eines Landes haben und die Recherche als Reisen im emphatischen Sinn zumindest teilweise betreiben wollen, sollten sich ein neues Betätigungsfeld suchen. Mir fallen dabei ein: Naturlyrik, Reisebeschreibungen, die als Print on Demand im Eigen- oder Kleinverlag veröffentlicht werden, sowie Artikel in einem der vier oder fünf deutschsprachigen Printmedien, die genügend Platz, Geld, Stil und Kompetenz haben.

2. Autoren vom Typus SCHREIBER, deren Stärke in der verbalen und werblichen Ummantelung von Events und Sehenswürdigkeiten, also kurz: des touristischen Alltags liegt, sollten in die Werbeabteilungen der Tourismusindustrie überwechseln und ihre überlegenen Fähigkeiten dort zum Einsatz bringen, wo bisher Slogans und Texte eher heimgestrickt wurden. Der Nutzen für den Leser bestünde in klarerer Begrifflichkeit, leichterer Verdaulichkeit und höherer kommunikativer Schlagfertigkeit. Kenntnisse im Umgang mit Synonymlexika und Textbausteinen erleichtern die Input-Output-Rate.

3. Autoren vom Typus SCHNÜFFLER, deren Stärke in der sachlichen Erschließung von Restaurants, Hotels, Stränden und touristischen Sehenswürdigkeiten liegt, werden nicht umhin können, sich zu Providern oder Zulieferern von touristischem Content weiterzuentwickeln.
a. Sie sollten sich Kenntnisse in Datenbanktechnologie aneignen, um ihre Bestände aktuell, jederzeit verfügbar und je nach Nachfrage sortierbar zusammenstellen und anbieten zu können
b. Sie sollten sich eventuell mit anderen Spezialisten einer Region zusammentun, um Datenpools zu ihrem Zielgebiet nicht nur zu verwalten, sondern gezielt zu monopolisieren, um auf diese Weise maximalen Profit aus ihren Spezialkenntnissen zu ziehen. Perspektivisch ist es sowohl sinnvoll, diese Daten verschiedenen Medien, also nicht nur allen miteinander konkurrierenden Reiseliteraturverlagen, sondern auch Reisemagazinen, Firmenzeitschriften etc. anzubieten.
c. Richtig lukrativ wird die Kooperation mit einem/ oder der Aufbau eines international und mehrsprachig operierenden Content-Brokering-Unternehmens
Bei der Verwirklichung dieser Modelle befinden sich die Autoren in einer Hase- und Igelsituation. Vermutlich werden die Verlage längst ihre Schlussfolgerungen gezogen haben, bevor drei Autoren sich überhaupt an einem Tisch zusammengefunden haben.

....für Verlage
ist der Wechsel vom Kulturträger zum Datenhändler mit Erschütterungen der kollektiven Identität verbunden.
1. Die Kreativitätszentren, meistens mit den überlasteten Cheflektoraten gleichzusetzen, trifft es als erste. Alle ökonomisch und buchtechnisch machbaren Verbesserungen von Reiseführern sind erfunden, als da wären: Destinations-Karten, ausklappbar und mit Plastikfolien ummantelt, farbige Fotografien, Insiderwitze und -empfehlungen, Hitlisten, Griffleisten, Prominententipps, Modulreiseführer usw. Alle Reiseziele sind erschlossen und beschrieben und auch fast alle denkbaren Zielgruppen bereits mit eigenen Reiseführerreihen abgedeckt. Jetzt gilt es, dreigleisig vorzugehen:
a. Eine Gruppe von Kreativen, nennen wir sie die Techno-Gruppe, muss industriespionagemäßg in die Labors von Nokia, Motorola, Hewlett-Packard usw. vordringen, um herauszufinden, welche Non-Books die Datenträger der Zukunft sind. Sind es PDAs, also Private Data Organizers oder weiterentwickelte Handys oder destinationsbezogene Navigationssysteme, wahlweise extern im Automobil einzusetzen oder als Körperimplantat zu tragen, oder E-Books? Welche elektronischen Papiersorten sind tropenwald-, wüsten und U-Bahntauglich?
b. während parallel die Daten-Gruppe die Logistik organisiert, mit der die touristische Hausdatenbank an neue Daten- und Übertragungsformate angepasst und der Input optimiert werden kann
c. und die Image-Gruppe unter den Mitarbeitern eine Reihe von organisatorischen Umstellungen im Geiste des Binnenmarketings einsichtig macht: Radikaler Bruch mit allen Traditionen der Autorenbetreuung, Optimierung von Netzwerk- und Zeitplanung, Aufgabe der Vorstellung vom Lektor als Leser (Wozu gibt es Maschinen), Umorientierung auf neue Hierarchien des Datenschaufelns und Arbeitsteilungen: Inputter/ Outputter, OCR-Überwacher, PDFiler, Scanneradministrator, Rechtschreibprüfer.

Zum Glück bleibt von diesen Prozessen das Reisen weitgehend unberührt. Das war ja schon immer eine unerfüllte Sehnsucht der Gutenbergära: anderen vorzuschreiben, was sie tun sollten. Beim Reisen macht man eh, was man will, und glaubt, niemandem zu gehorchen.

 

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